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Netzgemeinde ist für Gauck

9. Juni 2010

Ob Joachim Gauck damit gerechnet hat? Seitdem er für das Amt des Bundespräsidenten nominiert ist, scheint die Sympathie für ihn riesig. Jetzt macht auch die Online-Gemeinde für den "Präsidenten der Herzen" mobil.

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Joachim Gauck (Foto: AP)
Joachim Gauck findet im Internet Fans und FeindeBild: DW

Wer heutzutage eine politische Kampagne führt oder für ein Amt kandidiert, kommt am Internet nicht vorbei – das gilt spätestens seit Barack Obamas Erfolg bei den US-Präsidentschaftswahlen als unzweifelhaft, auch hierzulande. Fast jeder politisch Aktive hat inzwischen eine eigene Webseite. Und wer noch näher am Puls der Zeit ist, hat einen Account bei Facebook. Viele netzaffine Politiker twittern auch mehr oder weniger eifrig herum; verbreiten zum Beispiel schon einmal gegen alle Etikette der analogen Welt Wahlergebnisse frisch aus dem Reichstag – und zwar vor der vorgesehenen offiziellen Bekanntgabe. So geschehen am 23. Mai 2009, bei der Wiederwahl von Horst Köhler.

Barack Obama (Foto: AP)
Barack Obama: Auch dank Online-Unterstützung seit 2008 US-PräsidentBild: AP

Ein Bundespräsident oder eine Bundespräsidentin wird in Deutschland von der Bundesversammlung gewählt, nicht direkt durch das Volk. Einen Wahlkampf gibt es eigentlich nicht. Doch immerhin: Bis zum 30. Juni besteht noch die Chance, die öffentliche Meinung oder die sogenannte "politische Willensbildung" zu beeinflussen. Oder vielleicht doch eben auch einen der 1244 Vertreter in der kommenden 14. Bundesversammlung.

Die Macht der Blogger

Die "Netzgemeinde" - also Blogger, Twitterer und Kommentarverfasser in Online-Foren - sieht sich ohnehin schon in der Verantwortung für den Rücktritt Horst Köhlers. Oder zumindest mitbeteiligt. Denn verschiedene Blogger hatten bereits am Pfingstwochenende auf die "problematischen" Passagen in einem Interview des Bundespräsidenten hingewiesen; Tage, bevor das Thema von den "klassischen Medien" aufgegriffen wurde.

Und auch dafür, dass Ursula von der Leyen doch nicht Angela Merkels Kandidatin für das höchste Amt im Staat geworden ist, reklamiert die Netzgemeinde eine gewisse Mitverantwortung: Die ehemalige Familienministerin war mit ihrem Eintreten für Websperren gegen Kinderpornografie regelrecht zum roten Tuch für die "Gemeinde" geworden. Von der Leyen wurde kurzerhand in "Zensursula" umgetauft. Die Online-Proteste gegen eine Kandidatur der jetzigen Arbeitsministerin ließen so nicht lange auf sich warten.

Gauck liegt überall vorn

Horst Köhler (Foto: AP)
Horst Köhler geht - die Netzgemeinde hatte es schon geahntBild: AP

Ob der Einfluss der Netzgemeinde nun wirklich so groß ist, darüber kann man trefflich streiten. Auf jeden Fall macht das Netz jetzt wieder mobil, diesmal für jemanden: Joachim Gauck. Da gibt es die digitale Unterschriftenliste www.wir-fuer-gauck.de, auf der viele Unterstützer ihre Zustimmung für den Bürgerrechtler auch begründen: "Ich wünsche eine moralische Instanz als Präsident und keinen parteipolitischen Taktik-Kandidaten."

Da gibt es die Facebook-Gruppe "Joachim Gauck als Bundespräsident“ und die Twitter-Kampagne "mein_praesident". Bei einer Netz-Abstimmung bei "Zeit Online" entscheiden sich stolze 94 Prozent der Teilnehmer für Gauck. Manch einer der Netz-Initiatoren denkt schon darüber nach, die Unterstützungsaktion aus der digitalen in die analoge Welt überschwappen zu lassen, zum Beispiel mit einer Großdemonstration in Berlin.

Kritik von links

Facebook-Seite von Joachim Gauck (Foto: facebook)
Auch bei Facebook hat Joachim Gauck FansBild: Facebook

Freilich ist die "Netzgemeinde" keine homogene Gruppe, Joachim Gauck hat nicht nur Befürworter. Vertreter des Meinungsspektrums links von der SPD wie die Partei "Die Linken" haben nicht nur Probleme mit Gaucks kompromissloser Positionierung bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Hier wird der Kandidat oft auch einer sogenannten "neoliberalen" Haltung und Denkart verdächtigt. Das schließen Blogger und Forenkommentatoren zum einen aus Gaucks Äußerungen selbst. Er hatte in einem Interview mit der Zeitung "Welt" gesagt, für ihn sei der Wert der Freiheit von allergrößter Bedeutung: "Und das sieht man im linken Spektrum zuweilen doch ganz anders. Dort ist ein Wert wie Solidarität viel wichtiger, und man vertritt eine staatliche Fürsorglichkeit, die mir manchmal viel zu weit geht, nämlich dann, wenn sie entmündigende, entmächtigende Tendenzen fördert."

Zum anderen weisen linke Blogger auf Gaucks Mitgliedschaft in der "Deutschen Nationalstiftung" hin. Speziell aus einem Thesenpapier der Stiftung aus dem Jahr 1996, das den "Umbau der Sozialversicherung, längeres Anhalten der Realeinkommen und umfassende Deregulierung auf allen Gebieten" fordert, wird auf die Haltung des Präsidentschafts-Kandidaten zu aktuellen Themen wie Hartz IV rückgeschlossen – andere User weisen dies als recht weit hergeholte Interpretation zurück.

Netzrauschen oder Geschichte schreiben

Einige kritische Stimmen, sonst großer Rückenwind aus dem Netz für Gauck. Aber noch einmal: Eigentlich gibt es ja keinen Wahlkampf und wahrscheinlich auch letztlich sehr wenige beeinflussbare Wähler in der Bundesversammlung.

Wenn es trotz allem am 30. Juni zur Sensation kommen sollte, vielleicht sogar mit anschließenden Konsequenzen für die Bundesregierung, dann wird die "Netzgemeinde" das auch als ihren Erfolg reklamieren - ein Stück weit wahrscheinlich zu recht.

Autor: Michael Gessat

Redaktion: Michael Borgers