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Erschreckende Entwicklung

Das Gespräch führte Oliver Samson9. August 2008

Rassismus in Italien, Apartheid und bittere Armut in Osteuropa, Vorurteile in Deutschland - der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma, Romani Rose, im Interview über die Situation seiner Volksgruppe.

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Romani Rose in der Sonderausstellung "Der nationalsozialistische Völkermord an Sinti und Roma" im Stadtmuseum Erfurt
Romani Rose in der Ausstellung "Der nationalsozialistische Völkermord an Sinti und Roma" im Stadtmuseum ErfurtBild: picture-alliance /dpa

DW-WORLD.DE: Herr Rose, tschechische Nazis wollen die 200.000 Roma nach Indien aussiedeln, in Italien erfassen die Behörden alle Sinti und Roma mit Fingerabdrücken, Kriterium ist dabei einzig und allein die ethnische Herkunft. Es gibt Brandanschläge gegen Lager. Der Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland beklagt steigenden Rassismus. Sind Sinti und Roma die neuen Sündenböcke der Europäischen Union?

Rose: Wir haben zurzeit eine erschreckende Entwicklung. Die jüngsten Vorkommnisse in Italien machen dies ja deutlich. Die Maßnahmen der Regierung Berlusconi mit erkennungsdienstlichen Sondermaßnahmen und Erklärung des Notstands erinnert uns an die schlimmste Vergangenheit - und sie sind ein klarer Verstoß gegen den EU-Vertrag. Sinti und Roma sind ja EU-Bürger. Die Ursachen liegen bei den italienischen Kommunen, die das Entstehen von Slums zuließen. Wenn am Stadtrand ein paar tausend Menschen ohne Perspektive in unbeschreibbaren Zuständen hausen, löst das natürlich Ängste bei der Bevölkerung aus. Diese Probleme aber zu instrumentalisieren und im Wahlkampf zu nutzen, wie das die Lega Nord gemacht hat, Minderheiten zu nutzen, um bei der Mehrheit Ängste zu schüren, das hätte ich im heutigen Europa nicht mehr für möglich gehalten. Der italienische Parlamentspräsident etwa äußert sich pauschal rassistisch gegen Sinti und Roma, so was wäre in Deutschland unvorstellbar. Hier gibt es auch Diskriminierung und Rassismus, aber dass eine Situation auf Kosten einer Minderheit missbraucht wird, um von eigenen Problemen abzulenken, das halte ich nach 60 Jahren Aufarbeitung unserer Geschichte für unmöglich.

Wieso verlassen momentan so viele Sinti und Roma ihre Heimat in Rumänien und Bulgarien?

Protest gegen Abnahme von Fingerabrücken bei Sinti und Roma in Italien
Stiller Protest gegen prophylaktische Abnahme von Fingerabrücken bei Sinti und Roma in Italien(7.8.2008)Bild: picture-alliance/dpa

Vor allem flüchten sie vor den enormen Benachteiligungen in allen Bereichen, von Bildung über Arbeit bis zum Wohnen. Wir brauchen dort dringend Bildungs- und Infrastrukturprogramme. Das Problem ist, dass diese Menschen überhaupt keinen Status haben. Sie sind überhaupt nicht existent und haben keine Perspektive. Wie die Leute leben, das ist menschenunwürdig. Ohne Wasser, ohne Strom, das sieht eher nach Bangladesch als nach Europa aus. Gerade die Wohnsituation ist ein enormer Makel. Die Menschen sind chancenlos, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Vieles, was dort passiert, erinnert an Südafrika während der Apartheid. In Ungarn, Tschechien und Bulgarien werden Sinti und Roma aus dem Bildungssystem herausgehalten. Die Kinder dürfen nicht auf normale Schulen gehen, sondern auf welche für geistig Behinderte, oder es gibt eigene Schulen, mit schlechter ausgebildeten Lehrern und weniger Lehrmaterial - das sind die eigentlichen Probleme.

Die EU hat gerade in den neuen Beitrittsgebieten das Jahrzehnt der Integration ausgerufen und viel Geld ausgegeben. Es ist von elf Milliarden Euro die Rede.

Die EU sollte nicht nur Kongresse abhalten, sondern Maßnahmen beschließen, die wirkliche Verbesserungen bringen. Das würde die Ursachen bekämpfen, die viele zur Flucht veranlasst. Wir haben bei der EU-Erweiterung nicht darauf geachtet, dass es eine Verpflichtung des jeweiligen Nationalstaats ist, konsequent gegen Rassismus und Benachteiligung vorzugehen. Das ist aber in Rumänien und Bulgarien nach wie vor an der Tagesordnung. Da muss ich den EU-Kommissaren einen klaren Vorwurf machen, auch jemandem wie Herrn Verheugen. Die neuen EU-Staaten werden viel zu wenig in die Pflicht genommen bei Minderheitenrechten. Wenn dort nach wie vor Staatsangehörige ausgegrenzt werden, weil sie einer anderen Volksgruppe angehören, muss man das einfach Rassismus nennen. Die bisherigen Programme haben nicht gegriffen und sind kaum zu den Betroffenen durchgedrungen. Eine Minderheit darf nicht besser gestellt werden als die Mehrheit, aber in Punkto Gleichheit müssen wir endlich aufholen.

In Deutschland löst die Armutsmigration aus Rumänien und Bulgarien seit der EU-Osterweiterung durchaus Befürchtungen aus. In der Wahrnehmung tauchen Sinti und Roma als vor allem Fensterputzer an Ampeln, Straßenmusiker und klauende Banden auf…

Roma Familie in Bulgarien Kinder
"Mehr Bangladesch als Europa": Roma-Familie in BulgarienBild: AP

Ich kenne natürlich die Klagen über Belästigungen, gerade in Berlin. Das sind überwiegend Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien, die viel Schlimmeres gewohnt sind, als das, was ihnen hier an Diskriminierung begegnet. Niemand verlässt seine Heimat gerne. Wir müssen die Probleme dort lösen.

Wie würden Sie das Verhältnis der deutschen Sinti und Roma gegenüber den Sinti und Roma aus dem Osten beschreiben?

In Deutschland sind wir seit 600-700 Jahren integriert. Integriert heißt aber oft: Sie verleugnen ihre ethnische Zugehörigkeit, weil sie glauben, so der tief verwurzelten Stigmatisierung zu entgehen. Die Bilder des Antiziganismus sind noch immer sehr lebendig. Das zwingt unsere Leute in die Anonymität. Es gibt Leute in der Politik, im Sport, im gesamten gesellschaftlichen Leben. Unser Ziel ist, dass sie sich zu ihrer Minderheit bekennen. Nationale und kulturelle Identität dürfen nicht zu einem Gegensatz gemacht werden. Das muss zum Anspruch einer Demokratie gehören. Die Kriminalisierung durch die Öffentlichkeit weckt bei den deutschen Sinti und Roma einfach Ängste. Wir haben eine gesamteuropäische Erfahrung gemacht - die des Antiziganismus. Das war ja keine Erfindung der Nazis, aber führte eben zum Programm der Vernichtung. Für uns ist es deswegen enorm wichtig, dass in unserem Rechtssaat sich jeder für seine Taten zu verantworten hat. Eine Pauschalisierung aufgrund der Volkszugehörigkeit darf es nicht geben. Gerade Deutschland hat hier eine Verantwortung entgegen zu wirken. Schon aus einer klaren Erkenntnis aus der Geschichte: Reichsinnenminister Frick hat in der NS-Zeit angeordnet, dass bei der Verurteilung von Nichtariern, wie es in der Nazi-Sprache hieß, die rassische Zugehörigkeit hervorzuheben sei. Hier unterscheidet sich eben der Rechtsstaat von der Diktatur, und der überwältigende Teil der Medien hat das nun auch zur Kenntnis genommen und verhält sich entsprechend.

Sprechen Sie eigentlich von einer einheitlichen Gruppe von Sinti und Roma in Europa?

Romani Rose
Rose bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus im Dresdner LandtagBild: picture-alliance /dpa

Ich kann mich in unserer Sprache Romanes nicht mit Rumänen unterhalten, weil die Minderheitensprache der osteuropäischen Roma eine andere Entwicklung als unsere Sprache hatte. Was uns zusammenhält, ist die gemeinsame Erfahrung der Verfolgung und Ermordung während des Holocaust. In allen elf von den Nazis besetzten Ländern wurden Sinti und Roma planmäßig erfasst, verschleppt und ermordet. Nur wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, genau wie bei den Juden.

Trotzdem scheint Antiziganismus verbreiteter als Antisemitismus…

Natürlich. In Bereich des Antiziganismus gibt es mehr Narrenfreiheit, und das offenere Bekenntnis zur Ablehnung. Im Antisemitismus ist ja auch schneller mit Konsequenzen zu rechnen. Ich würde mir wünschen, dass eine ähnliche Sensibilität herrscht. Es würde uns im Zusammenleben mit der Mehrheitsgesellschaft sehr helfen, wenn die Politik klar machen würde, dass Verantwortungsbewusstsein aus der Geschichte unteilbar ist. Das Ziel der Vernichtung der Nationalsozialisten galt beiden Minderheiten gleich. 2009 wird in Berlin das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma gegenüber dem Reichstag eingeweiht, dann wird hoffentlich auch das Bewusstsein wachsen. Dabei geht es nicht um Schuld - sondern um die Verantwortung für die Gegenwart.

Anfang August haben Sie einen Parallelbericht zum offiziellen Staatenbericht Deutschlands beim UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung vorgelegt. Vor allem der Polizei wird eine diskriminierende Grundhaltung vorgeworfen.

Wir haben zum Ausdruck gebracht, dass wir uns von der Bundesregierung eine klare Distanzierung von den diskriminierenden Äußerungen des stellvertretenden Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) verlangen. Der hatte im Verbandsblatt verbreitet, Sinti und Roma fühlten sich als "Made im Speck der Wohlstandsgesellschaft" und nähmen die "Legitimation für Diebstahl und Sozialschmarotzerei aus dem Umstand der Verfolgung im Dritten Reich"." Die Ministerpräsidenten von Bayern und Brandenburg, Beckstein und Platzeck, haben sich von der Äußerung distanziert, aber wir finden es schlimm, dass es die Justiz als von der Meinungsfreiheit gedeckt ansah. Das ist aus unserer Sicht Beleidigung und Volksverhetzung. Das wurde bis zum Generalstaatsanwalt so nicht gesehen. Das ist Jargon wie aus der Nazi-Zeit, auch Goebbels hat uns mit Tieren verglichen. Stellen Sie sich mal vor, eine ähnliche Äußerung wäre gegenüber der jüdischen Minderheit passiert. Der Bund Deutscher Kriminalbeamten hat sich davon bisher nicht distanziert. Wir finden das erschreckend und haben uns deshalb sowohl an den Bundestag als auch an Bundesinnenminster Schäuble gewandt, damit diese sich von solchen diskriminierenden Äußerungen distanzieren und entsprechende Maßstäbe für die deutsche Polizei vorgeben.

Der Kaufmann Romani Rose, geboren 1946, ist seit 1982 Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Er kämpft insbesondere um die offizielle Anerkennung der Leiden der Sinti und Roma in der NS-Zeit. 13 seiner Familienmitglieder wurden in Vernichtungslagern ermordet.