1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Zukunft der EU

Cem Özdemir 31. August 2008

Der geplante EU-Beitritt der Türkei wirft die Frage auf, was Europa ist, sagt Cem Özdemir. Für ihn ist Europa ein Friedensprojekt, das sich nicht zuvorderst über sein christlich-abendländisches Erbe definieren sollte.

https://p.dw.com/p/EXjK
Cem Özdemir ist Abgeordneter der Grünen im Europa-Parlament und Mitglied im Auswärtigen AusschussBild: picture-alliance/dpa

Nachdem die Staats- und Regierungschefs im Dezember 2004 grünes Licht erteilt hatten, führen die Europäische Union (EU) und die Türkei seit dem 3. Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen. Doch trotz dieses einstimmig gefassten Beschlusses, löst der EU-Beitritt der Türkei kontroverse und emotionale Debatten aus. Doch geht es bei diesem Streit nicht nur um die Türkei. Denn der Beitritt des Landes wirft die Frage auf, was Europa eigentlich ist und was es sein soll. Es besteht eine Parallele zur deutschen Debatte um die so genannte Leitkultur. Auch dort diskutieren wir nicht etwa nur die Integration von Migranten, sondern vergewissern uns auch umfassender über die Zukunft und Identität unserer Gesellschaft. In diesem Sinne ist auch die Debatte um die Grenzen und die Erweiterung der EU eine Art der Selbstvergewisserung. Doch was ist dieses Europa?

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind wirtschaftlich eng verflochten und es wäre falsch, die wirtschaftliche Integration bei einer Suche nach einer gemeinsamen Definition Europas stiefmütterlich zu behandeln, als ob sie eine geringere Bedeutung als angeblich objektive Grenzen und kulturelle Gemeinsamkeiten hätte. Die Bedeutung der politischen Integration wiederum zeigt sich angesichts der Herausforderungen, die ein Land alleine nicht erfolgreich bewältigen kann. Ob es sich um die Folgen des demographischen Wandels, den Klimawandel, die Bekämpfung des Terrorismus oder die globale Bekämpfung von Armut und Hunger handelt – die Europäische Union bietet ein einzigartiges Potenzial für eine effektive Kooperation von Staaten. Der EU-Reformvertrag ist auf diesem Wege ein wichtiger, wenn auch ganz sicher nicht der letzte Schritt.

Mehr als nur die Macht des Faktischen

Doch Solidarität und Kooperation, die im Fall der EU auch Verzicht auf Souveränität bedeuten, gründen sich eben nicht nur auf der Macht des Faktischen – sie leben von inneren Voraussetzungen, die weiter reichen. Dieses Fundament sehe ich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das heutige Europa ist für mich zugleich Vision und Projekt, das ohne die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs nicht denkbar ist. Europa und die EU verkörpern für mich die Ideale Frieden, Demokratie und Meinungsfreiheit, deren tägliche Verwirklichung zugleich verhindern soll, dass es jemals wieder zu einer solchen Katastrophe in Europa kommt.

Vor diesem Hintergrund finde ich es wenig überzeugend, Europa exklusiv über sein christlich-abendländisches Erbe oder die Aufklärung zu definieren. Es gibt keine objektiven, essentialistischen Kriterien, die unsere Identität und Zukunft umfassend determinieren würden. Geographen und Historiker sprechen von den "konstruierten" Grenzen Europas.

Beitritte als Bestätigung für die europäische Vision

dpa

Was also ist dieses Europa? Unserem Selbstverständnis nach ist es ein Ort, in dem Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Demokratie nicht verhandelbare Werte sind. Das ist es aber nicht aus seinem "Wesen" heraus – sondern weil wir es so wollen. Das wir hierbei selbst noch nicht am Ende der Entwicklung angekommen sind, zeigt der gar nicht so lange zurückliegende Krieg im ehemaligen Jugoslawien ebenso wie die Verstrickung der Mitgliedstaaten bei der Entführung von Personen durch die CIA und ihre menschenrechtswidrige Inhaftierung auf Guantanamo. Wenn es nun Staaten gibt, die der EU beitreten wollen und dabei genau um die Bedeutung dieser Werte für uns wissen, dann ist das eine Bestätigung für die visionäre Idee und den Erfolg der Europäischen Union.

Vor diesem Hintergrund macht die Frage, ob die Türkei ihrem "Wesen" nach zu Europa gehört oder nicht, wenig Sinn. Da das Land sich als Teil Europas betrachtet und nach der EU-Mitgliedschaft strebt, ist nicht entscheidend, was Europa angeblich ist oder nicht ist – sondern welche EU wir wollen und welche Rolle die Türkei dabei spielen soll. Religiöse und kulturelle Fragen dürfen bei der öffentlichen Debatte um die EU-Erweiterung zwar nicht ausgeklammert werden – sie spielen jedoch keine Rolle bei der Entscheidung für oder gegen den Beitritt eines Landes. Die Voraussetzungen sind bekannt: Die entsprechenden Kopenhagener Kriterien verlangen eine funktionierende und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, den Schutz von Minderheiten sowie die Übernahme des bestehenden EU-Rechts. Die Übernahme des EU-Rechts wird anhand von 35 Kapiteln abgearbeitet und strengstens überprüft.

Von den kulturalistischen Sichtweisen verabschieden

Obwohl die Beitrittskriterien folglich klar umrissen sind, wird von verschiedener Seite immer wieder kulturalistisch gegen einen Beitritt der Türkei argumentiert. Dabei wird nicht zuletzt, offen oder verdeckt, der islamische Charakter des Landes angeführt. Dabei sollten wir uns endlich von kulturalistisch-essentialistischen Vorstellungen verabschieden, als ob die Kultur eines Landes und die Einstellungen seiner Bevölkerung für alle Zeit unwandelbar seien. Die früheren Kandidaten Spanien und Irland illustrieren diesen Wandel ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland.

Außerdem wird eine erfolgreiche Erfüllung der Beitrittskriterien, die im Falle der Türkei so streng überwacht werden wird wie bei keinem anderen Kandidaten zuvor, die Türkei nicht nur wirtschaftlich und politisch verändern, sondern selbstverständlich auch den kulturellen Charakter des Landes beeinflussen. Man denke dabei nur an die Anstrengungen, die im Bildungsbereich notwendig sind. Das heißt aber eben nicht, dass die Türkei atheistisch oder christlich werden muss. Vielmehr muss die Türkei samt Bevölkerung in einem bislang einzigartigen Projekt nachweisen, dass Islam auf der einen und Demokratie, Menschenrechte, Marktwirtschaft und Schutz von Minderheiten auf der anderen Seite keine Widersprüche darstellen.

Ankara als wichtiger Vermittler im Nahost-Konflikt

Der syrische Regimekritiker und Publizist Michel Kilo erinnerte vor wenigen Jahren in Berlin daran, dass sich die Wahrnehmung der Türkei in den Gesellschaften des Nahen Osten gewandelt habe. Es sei noch nicht lange her, da wurde der Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs aufgrund seiner Einbindung in die NATO und guter Beziehungen zu Israel als Verräter betrachtet. Heute achte man das Land für seine demokratischen Wahlen, die Pressefreiheit und die wirtschaftliche Entwicklung. Ankara spielt zudem eine wichtige Rolle als Vermittler im Nahost-Konflikt.

Auch vor diesem Hintergrund ist die Integration der Türkei in die EU eben nicht nur in türkischem, sondern auch in europäischem Interesse. Die zivilgesellschaftlichen und reformorientierten Kräfte in den Ländern des Nahen Ostens blicken gespannt auf den weiteren Weg der Türkei. Die Mitgliedstaaten sollten die Türkei daher nicht als einen innenpolitischen Spielball betrachten, sondern als positive Herausforderung annehmen und das Land ehrlich und dennoch kritisch auf seinem Weg in die EU begleiten. Es ist offenkundig, dass die erfolgreiche Verwirklichung dieses Projekts in unserem Interesse ist.

Cem Özdemir ist Abgeordneter der Grünen im Europa-Parlament und Mitglied im dortigen Auswärtigen Ausschuss.