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93 Jahre danach - Die armenische Minderheit in der Türkei

Susanne Güsten23. April 2008

Am 24. April 1915 begann in der Türkei die systematische Vertreibung der Armenier. Hunderttausende von ihnen kamen dabei ums Leben. Trotzdem lebt eine kleine Gruppe von Armeniern noch heute in der Türkei.

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Schwarz-weiß Foto von 1915. Eine armenische Mutter trauert um ihr totes Kind, das vor ihr auf dem Boden liegt
Türkei 1915 - eine armenische Mutter trauert um ihr totes KindBild: dpa

Beim Sportunterricht am Esayan-Gymnasium, einer armenischen Schule in der Innenstadt von Istanbul, schubsen und drängeln sich auf dem Schulhof zwei Dutzend Fünfzehnjährige in adretten Schuluniformen. Währenddessen dirigiert sie ein älterer Schüler mit Fotoapparat von einem Fenster aus. "Wir versuchen, für ein Foto den armenischen Buchstaben E zu bilden", erklärt er. "E für Esayan, den Namen unserer Schule." Das Bild soll auf Grußkarten für die Familien der Schüler kommen. 340 Schüler besuchen die Esayan-Schule – eine von 16 armenischen Schulen in Istanbul. Außerhalb von Istanbul gibt es in der Türkei seit dem Ersten Weltkrieg keine armenische Schulen mehr – und auch fast keine Armenier.

Die allermeisten der 80.000 im Land verbliebenen Armenier leben heute in Istanbul. Dass es sie überhaupt noch gibt, überrascht Außenstehende manchmal, sagt der Sportlehrer Armando Kozantino: "Die Leute wissen oft nicht, dass wir hier als Armenier leben können. Wir haben hier armenische Kirchen, armenische Schulen, das Recht auf armenische soziale Einrichtungen, wir haben auch einige Rechte und Freiheiten." Die Armenier haben in der Türkei einen völkerrechtlichen Anspruch auf ihre Kultur. Er erwächst ihnen aus dem Friedensvertrag von Lausanne, den die Siegermächte des Ersten Weltkrieges 1923 mit der jungen Türkei abschlossen. Auch das Grundrecht auf Gleichberechtigung garantierte die Türkei ihren nicht-moslemischen Bürgern. In der Praxis hapert es damit aber noch heute:

Türkische Lehrer bedeutet moslemische Lehrer

Eine Fähre zieht an der Kulisse der Hafenstadt Istanbul vorüber. Im Hintergrund ragen die Minarette zweier Moscheen in den Himmel
In Istanbul lebt die größte armenische Gemeinde in der TürkeiBild: picture-alliance/ dpa

Im Armenisch-Unterricht am Esayan-Gymnasium müht sich die 16-jährige Melissa an der Tafel mit den armenischen Verben ab. Keine Kleinigkeit ist das, denn die armenischen Verben werden nicht nur durch die verschiedenen Zeiten, sondern auch durch unterschiedliche Perspektiven und sogar Stimmungen konjugiert. Lehrer Garbis Herasanciyan muss öfter korrigierend eingreifen. Als türkischer Staatsbürger armenischer Herkunft darf Herasanciyan den armenischen Sprachunterricht erteilen. Anders ist das aber mit den Fächern Türkisch, Erdkunde und vor allem Sozialkunde. "Die Lehrer für die sogenannten türkischen Kulturfächer werden uns vom Bildungsministerium zugewiesen", erläutert Schuldirektorin Satenik Nisan. "Nur die anderen Fächer dürfen von armenischstämmigen Lehrern unterrichtet werden." Außerdem gebe es an armenischen Schulen stets einen türkischen leitenden Vize-Direktor, der die Schule zusammen mit dem Direktor leite.

Türkische Lehrer und türkische Vize-Direktoren, wie es das Gesetz vorschreibt, das bedeutet im Klartext: moslemische Lehrer und moslemische Vize-Direktoren. Denn türkische Staatsbürger sind die Armenier von Istanbul schließlich auch. Eine bezeichnende Vorschrift, meint Raffi Hermon, der Vizevorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins und selbst Armenier: "Die Türkei macht damit unmissverständlich klar, dass sie die türkische Staatsbürgerin armenischer Abstammung, die dort Schuldirektorin ist, nicht als Türkin betrachtet, nicht als echte Türkin." Diese Ausgrenzung erstreckt sich auch auf andere Lebensbereiche, etwa auf das Berufsleben.

Den Armeniern bleiben nur freie Berufe

Türkische Soldaten mit weißen Helmen vor türkischer Flagge
Der Weg in die türkische Armee bleibt den Armeniern verbautBild: AP

In Pangalti, dem Armenierviertel von Istanbul, gibt es zahlreiche Zahnärzte, Autowerkstätten und Goldschmiede. "Die Armenier können in der Türkei traditionell nicht Beamte, Soldaten oder Polizisten werden", erläutert der armenische Mediziner Pakrat Estukyan, der in Pangalti ein kleines Labor betreibt. Damit blieben den Armeniern nur die freien Berufe. "In der türkischen Verfassung heißt es, dass alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz", klagt Estukyan. "Aber es gibt auch ungeschriebene Gesetze. Ein armenisches Kind wird etwa an eine Militärakademie einfach nicht aufgenommen. Die werfen einen Blick in die Personalakte und sagen: abgelehnt." Das sei weder gesetzlich noch verfassungsmäßig verankert, werde aber so gehalten, und zwar systematisch.

Aus Sicht des Menschenrechtsvereins ist dies das grundlegendste Problem der Armenier wie auch der anderen Minderheiten in der Türkei. "Was die Nicht-Moslems in der Türkei am dringendsten brauchen, das ist die Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger des Landes", sagt Raffi Hermon. "Solange wir nicht-moslemischen Staatsbürger nicht Gouverneur werden können oder Landrat, Diplomat, Polizist, Soldat oder Müllmann oder sonst ein verbeamteter Beruf, Lehrer für Türkisch oder Erdkunde oder Sozialkunde – solange haben wir hier noch immer ein Problem."