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Gefühltes Europa

Daniel Scheschkewitz, Kaliningrad28. Februar 2008

Es liegt eingezwängt zwischen den EU-Staaten Polen und Litauen und ist getrennt vom russischen Mutterland - Kaliningrad. Trotz oder gerade wegen dieser Lage wächst langsam ein besonderes europäisches Lebensgefühl.

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Rote Backsteinkirche (Quelle: DW/Daniel Scheschkewitz)
Lutherische Kirche in KaliningradBild: DW / Daniel Scheschkewitz

In Kaliningrad boomt die Wirtschaft. Bettler, Drogenabhängige und Prostituierte sind weitgehend aus dem Stadtbild des ehemaligen Königsbergs verschwunden. Aber wer die Augen vor der Armut im neureichen Russland nicht verschließt, wird leicht fündig. Zum Beispiel unter einem gemalten Apfelbaum im gleichnamigen Kinderheim Jablonka, wo in einem Arbeiterviertel Kaliningrads ein gutes Dutzend Kinder, denen ein Zuhause fehlt, eine fürsorgliche Bleibe gefunden haben. Hier kümmert man sich um die kleinen Menschen, die der Aufschwung zurückgelassen hat.

Ein Platz für Kinder

"Die sozialen Probleme bestehen nach wie vor, auch wenn es einen Aufschwung gegeben hat. Dennoch ist es so, dass einige - und diese Gruppe ist gar nicht so klein - davon wenig mitbekommen", sagt Heye Osterwald, der Propst der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kaliningrad, die das Projekt betreibt. "Die Preise steigen, das Arbeitstempo wird schneller, die Familien kommen zum Teil nicht mehr mit. Da bleiben die Schwachen außen vor - und das sind oftmals eben Kinder."

Kinder vor einer bemalten Wand (Quelle: DW/Daniel Scheschkewitz)
Heimat - JablonkaBild: DW / Daniel Scheschkewitz

Der Vater trinkt, die Mutter leidet unter Depressionen, die Schicksale der Jablonka-Kinder unterscheiden sich. Aber sie alle haben in den schlicht, aber liebevoll eingerichteten Containerräumen auf einem kleinen Gelände inmitten sowjetischer Plattenbausiedlungen einen Platz zum Spielen, Hausaufgaben machen oder auch zum Schlafen gefunden.

Ein Anker

Für die Kinder ist Jablonka ein Anker im rauen Alltag des boomenden Großstadtlebens. Die Stadt selbst hat der kirchlichen Einrichtung die finanzielle Unterstützung entzogen. Nichtregierungsorganisationen, und zu denen zählt Jablonka, werden in Zukunft vom russischen Staat wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen nicht mehr unterstützt. Die Stadt investiert lieber in staatliche Einrichtungen.

Ankündigungsposter (Quelle: DW/Daniel Scheschkewitz)
Ankündigung des jährlichen JazzfestivalsBild: DW / Daniel Scheschkewitz

"Wir haben da einiges getan", sagt Alexander Musevich, stellvertretender Vorsitzender des Stadtrates von Kaliningrad. "Aber auch durch Nahrung, Kleidung und Ausbildung kann man ihnen Familie nicht ersetzen. Deswegen haben unser Gouverneur und die Regierung beschlossen, die Zahl der Waisenkinder dadurch herabzusetzen, dass Adoptivfamilien gefunden werden." Über 170 Kinder wurden bei Pflegeeltern untergebracht. Außerdem hat die Stadt ein Rehabilitationszentrum mit 80 Plätzen für drogenabhängige Jugendliche eingerichtet.

Junge Leute vor einer Wand, die mit Karten und Tabellen behangen ist (Quelle: DW/Daniel Scheschkewitz)
Studenten des Klaus Mehnert InstitutsBild: DW / Daniel Scheschkewitz

Während so die ärgsten Begleiterscheinungen des Transformationsprozesses gelindert werden, bricht sich andernorts schiere Lebensfreude ihre Bahn: Im dritten Jahr schon treffen sich im Sommer Jazzmusiker aus den Nachbarstaaten Polen, Litauen und Deutschland, aber auch aus Übersee zu einem großen Jazzfestival. Gejazzt wird auf einem großen Freigelände hinter der alten Louisenkirche. Festival-Direktor Andrej Karachinov ist sehr stolz darauf, das Festival aus eigenen Kräften und ohne die finanzielle Unterstützung Moskaus auf die Beine gestellt zu haben. "Moskau hat zwar seine Unterstützung gegeben, aber nicht finanziell. Auf diese Weise versuchen wir uns mit Bands aus dem europäischen Ostseeraum Europa anzupassen. Wie wollen wir denn eine europäische Stadt sein, wenn wir nicht auch europäisches Niveau erreichen?"

Ort des Geistes

Europäisches Niveau streben auch die Studenten des Europastudiengangs am Klaus-Mehnert-Institut an. Die Absolventen des Postgraduierten-Studiengangs in deutscher Sprache kommen aus allen Teilen Russlands und dem Ausland. Gelernt und diskutiert wird über europäische Politik, Recht, Wirtschaft und Kultur. Dabei stehen Russlands Beziehungen zu Deutschland und Europa naturgemäß im Mittelpunkt. Gäbe es dazu einen besseren Ort als Kaliningrad, wo zu deutscher Zeit Immanuel Kant die Freiheit des Geistes postulierte? Student Igor Vidmyeh jedenfalls sieht sich in dieser Tradition: "In Kaliningrad ist man schon ein bisschen freier, die Menschen denken hier ein bisschen europäischer. Hier am Institut haben wir noch dazu eine Gruppe aus verschiedenen Ländern. Das führt zu einer besonderen Offenheit. Da ist dieser Geist tatsächlich zu spüren."

Säulen-Portal (Quelle: DW/Daniel Scheschkewitz)
Luisentheater in Kaliningrad mit WahlkampfplakatBild: DW / Daniel Scheschkewitz

Königsberg war die erste deutsche Großstadt, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee eingenommen wurde. Das deutsche Erbe im Stadtbild erinnert bis heute daran. Manches in arg verfallenem Zustand, manches – wie der Königsberger Dom – prächtig restauriert. Für die jungen Russen, wie Pavel Kuryatnikov der ebenfalls am Mehnert –Institut studiert, ist Kaliningrad auch deshalb ein ganz besonderer Ort. "Es ist wirklich spannend zu sehen, die alten preussischen Häuser und Denkmäler, wie zum Beispiel das alte Rathaus und gleich daneben sowjetische Plattenbauten. Das ist ein Kontrast, der uns zu denken gibt - was wir nicht alles mit der Geschichte tun und mit uns selbst."