1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Der Deutsche Herbst

Monika Dittrich4. September 2007

Der Terror der RAF bleibt bis heute ein Trauma für die Deutschen - besonders die Entführung von Arbeitgeberpräsident Schleyer vor 30 Jahren. Staat und Terroristen lieferten sich 44 Tage lang eine beispiellose Machtprobe.

https://p.dw.com/p/Bb2I
Arbeitsgeberpräsident Hanns-Martin Schleyerin Gefangenschaft der RAF - Foto: AP Photo/HO
Hanns-Martin SchleyerBild: AP

5. September 1977: Ein RAF-Kommando überfällt in Köln die Wagenkolonne von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. Seine vier Begleiter sterben im Kugelhagel, Schleyer wird aus dem Auto gerissen und verschleppt. Es ist der Beginn dessen, was später als "Deutscher Herbst" bezeichnet werden sollte. Die linksradikale Rote Armee Fraktion will mit der Aktion elf inhaftierte Genossen freipressen. Seit 1972 sitzt die Gründungsgeneration der Gruppe wegen zahlreicher Bombenattentate im Gefängnis in Stuttgart-Stammheim, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Sie sind Herz und Hirn der RAF, aus dem Gefängnis heraus steuern sie den bewaffneten Kampf.

Tatort der Schleyer-Enführung in Köln, Quelle: AP
Tatort der Schleyer-Entführung in Köln (Archivfoto 1977)Bild: AP

Draußen ist in der Zwischenzeit eine zweite RAF-Generation herangewachsen. Von ihren ursprünglichen politischen Zielen wie dem Kampf gegen Kapitalismus, Ungerechtigkeit in der Welt und der Verdrängung der Nazivergangenheit – davon hat sich die RAF zu diesem Zeitpunkt allerdings längst entfernt. Jetzt geht es nur noch um "Big Raushole", also die Befreiung der einsitzenden Rädelsführer.

Deutschland im Ausnahmezustand

Doch die Bundesregierung will auf die Forderungen der Erpresser nicht eingehen, Bundeskanzler Helmut Schmidt befürchtet, dass freigelassene Terroristen neuen Terror säen würden. Vier Stunden nach der Entführung meldet er sich in einer Fernsehansprache zu Wort. "Während ich hier spreche, hören irgendwo sicher auch die schuldigen Täter zu", sagt Schmidt. "Sie mögen in diesem Augenblick ein triumphierendes Machtgefühl empfinden. Aber sie sollen sich nicht täuschen. Der Terrorismus hat auf die Dauer keine Chance."

Während der Entführung Schleyers ist Deutschland 44 Tage lang im Ausnahmezustand. In der Hauptstadt Bonn fahren gepanzerte Autos durch die Straßen, Ministerien werden mit Stacheldraht verbarrikadiert. Mehrmals täglich treffen sich die Krisenstäbe von Bundesregierung und Bundeskriminalamt. Sie bringen das Kontaktsperregesetz auf den Weg – es wird vom Parlament so schnell verabschiedet wie kein anderes Gesetz zuvor. Das Gesetz verbietet den RAF-Häftlingen, miteinander oder mit ihren Anwälten zu sprechen. Denn in der Bundesregierung ahnt man, dass der Anschlag im Gefängnis geplant wurde.

Das Bundeskriminalamt startet eine beispiellose Fahndung: Tausende Wohnungen werden durchsucht, wer nicht zu Hause ist, dessen Haustürschlösser werden aufgebrochen. Millionen Flugblätter mit Fahndungsfotos werden verteilt. Die Polizei veröffentlicht Tonbandaufnahmen mit den Stimmen der mutmaßlichen Täter.

Das Feindbild schlechthin

Tatsächlich sind die Fahnder den Entführern ganz dicht auf den Fersen – nur wegen einer Panne bleibt das Schleyer-Versteck unentdeckt. Und die RAF beharrt auf ihren Forderungen. Sie schickt der Bundesregierung ein Tonband mit der brüchigen Stimme Schleyers. "Ich frage mich in meiner jetzigen Situation: Muss denn noch etwas geschehen, damit Bonn endlich zu einer Entscheidung kommt", sagt Schleyer. "Schließlich bin ich nun fünfeinhalb Wochen in der Haft der Terroristen."

Für die RAF ist Hanns Martin Schleyer das Feindbild schlechthin: Er ist einer, der schon bei den Nationalsozialisten Karriere gemacht hatte und nun in der Bundesrepublik zu den mächtigsten Wirtschaftsbossen gehört. Auf den Titelseiten der deutschen Zeitungen erscheinen in den Tagen der Entführung Fotos, die das RAF-Kommando von Schleyer aufgenommen hat: Im Unterhemd sitzt der Arbeitgeberpräsident da, die Haare zerzaust, das Gesicht gezeichnet von den Strapazen der Geiselhaft. In den Händen hält er ein Schild mit der Aufschrift: "Gefangener der RAF". "Ein Bild, bei dem man weinen möchte" – titelt eine große deutsche Boulevard-Zeitung.

In der deutschen Öffentlichkeit denkt man in diesen Tagen des "Deutschen Herbstes" ernsthaft darüber nach, die Todesstrafe wieder einzuführen; die Mehrheit der Deutschen votiert in einer Umfrage dafür. Es wird darüber diskutiert, wie die Terroristen unter Druck zu setzen seien und ob nicht jeden Tag ein RAF-Häftling erschossen werden könne. Es ist die Hysterie einer verängstigten Gesellschaft. Und der Nervenkrieg ist noch nicht zu Ende.

Unterstützung der RAF durch palästinensische Terroristen

entführte Lufthansa-Maschine "Landshut", Quelle: AP
Die entführte Lufthansa-Maschine "Landshut" (Archivfoto 1977)Bild: AP

Am 13. Oktober 1977 entführen vier palästinensische Terroristen eine Lufthansa-Maschine mit 87 Menschen an Bord. Die Geiselnehmer unterstützen die RAF im internationalen Guerillakampf und wollen den Druck auf die Bundesregierung erhöhen: Sie drohen, die Passagiere zu töten, falls die Stammheimer Häftlinge nicht freikommen. Nach einem dramatischen Irrflug landet die Passagiermaschine in Mogadischu, der Hauptstadt von Somalia. Den Piloten hatten die Terroristen bereits im Mittelgang der Maschine mit einem Kopfschuss getötet. Die Passagiere erleiden Höllenqualen.

Nach fünf Tagen, in der Nacht zum 18. Oktober 1977, wird das Flugzeug gestürmt, von einer deutschen Spezialeinheit, der GSG9. Wenige Stunden später heißt es in den Nachrichten: "Die von Terroristen in einer Lufthansa-Boeing entführten 86 Geiseln sind glücklich befreit worden. Dies bestätigte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums soeben in Bonn."

In den Hinterkopf geschossen

Diese Meldung hören die RAF-Häftlinge in ihren Zellen. Noch in der gleichen Nacht nehmen sie sich das Leben. In das angeblich sicherste Gefängnis des Landes hatten sie Waffen geschmuggelt. Einen Tag später wird die Leiche von Hanns-Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos gefunden. Wer von der RAF ihm in den Hinterkopf geschossen hat, das ist bis heute nicht geklärt.

Sein Sohn Dirk Schleyer erinnert sich: "25 Jahre war ich damals alt. Da war ich mitten im Leben, im Studium. Und da fehlt er einem schon irgendwo. Weil mit 17 hat man andere Gespräche als mit 20 oder 30. Aber manchmal spreche ich mit ihm, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Aber doch, er fehlt schon sehr."

Der Tod Schleyers markiert das Ende des so genannten "Deutschen Herbstes". Der Staat hat die Konfrontation mit dem Linksterrorismus überstanden – doch der Preis ist hoch. Die Erinnerungen an das Terrorjahr 1977 haben sich in das Gedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt. Und dass die Geschichte der RAF noch längst nicht Geschichte ist, zeigt sich im 30. Jahr nach dem Deutschen Herbst: Aufgeregt diskutiert die Öffentlichkeit darüber, wie viel Versöhnung der Staat den Tätern von damals entgegen bringen darf, zum Beispiel im Fall Christian Klar. Seit 1982 sitzt er im Gefängnis, unter anderem wegen der gemeinschaftlichen Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers. Sein Gnadengesuch hat Bundespräsident Horst Köhler im Mai dieses Jahres abgelehnt.