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Virtuelle Schule

Geraldo Hoffmann27. Juni 2007

Digitaler Campus und virtuelles Klassenzimmer: Das Internet verändert das angeblich reformresistente deutsche Bildungssystem. Doch Experten stellen den Computer als Allheilmittel für den Unterricht in Frage

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Erstklässlerinnen sitzen vorm Computer
Computer im Unterricht: Schon ab der 1. Klasse kommt der PC zum EinsatzBild: PA/dpa

Wer das Nell-Breuning Berufskolleg in Bad Honnef bei Bonn besucht, könnte der PISA-Studie recht geben, wonach Schüler im Unterricht besser abschneiden, wenn sie viel Zeit am Computer verbringen. Jedem zweiten Schüler steht hier ein Computer mit Internetzugang zur Verfügung. Und sie werden auch intensiv genutzt.

"Wir benutzen das Internet sehr häufig im Unterricht, um Informationen zu holen und den Unterrichtsstoff zu verbessern", sagt die Schülerin Monika Kanert. "Je mehr man es nutzt, desto besser kann man damit umgehen. Und das ist sicherlich von Vorteil für das spätere Berufsleben, wo der Computer immer häufiger zum Einsatz kommt.

Computerkenntnisse sichern Ausbildungsplatz

Das Ergebnis des intensiven Computer- und Interneteinsatzes im Unterricht lässt sich sehen. Wer an dieser höheren Handelschule seinen Abschluss schafft, hat bislang auch immer einen Ausbildungsplatz bekommen. Deshalb blicken die meisten der 146 Jugendlichen, obwohl viele von ihnen durch eine Körperbehinderung gehandicapt sind, sehr zuversichtlich in die Zukunft.

2006 wurde die Schule für ihren vorbildlichen Einsatz von neuen Medien ausgezeichnet. Dabei war sie zehn Jahre zuvor, als das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Deutsche Telekom die Initiative Schulen ans Netz (SaN) ins Leben riefen, wie die meisten Schulen in Deutschland computertechnisch noch Brachland. Ganze sechs PCs und zwölf Schreibmaschinen standen den Schülern zur Verfügung.

Grundschüler lernen am Computer
Tippen statt Schreiben, und das schon in der GrundschuleBild: Bilderbox

Über SaN bekam die Schule anfangs neue Computer, kostenlose Internetzugänge, Unterstützung von EDV-Fachleuten und führte dann die Aufrüstung konsequent in Eigenregie fort. Heute stehen zwei große PC-Räume bereit, in jedem Klassenraum befindet sich mindestens ein Computer am Lehrerpult. Außerdem können die Schüler vor Schulbeginn, in der Pause und diejenigen von ihnen, die im Internat wohnen, sogar bis spät in den Abend an sechs Rechnern auf den Schulgängen arbeiten und surfen. "Damit sind wir natürlich eine Ausnahme in Deutschland", gibt der Informatik-Lehrer Markus Niederastroth zu.

Bildung geht online

Laut einem Bericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung waren 2006 insgesamt 30.304 Schulen mit 1.075.393 Computern ausgestattet. In den Grundschulen teilen sich im Schnitt 12 Schüler einen Computer; in den Sekundarschulen I und II ist dieses Verhältnis 11:1, und in den berufsbildenden Schulen sogar 9:1. Damit wird in allen drei Schulformen das von der Europäischen Kommission im Rahmen des Aktionsplans "eLearning" gesetzte Ziel von 15 Schülern pro Computer übertroffen.

Grundschüler lernen am Computer
Schildschirm statt Tafelbild, I-Dötzchen lernen am MonitorBild: dpa

Dem Bericht des BMBF zu Folge sind 71% der Computer in den bundesdeutschen Schulen mit dem Internet verbunden. In 79% der Grundschulen wird das WWW häufig oder gelegentlich im Sachunterricht, 66% im Fach Deutsch und 54% in Arbeitsgemeinschaften genutzt. In den Sekundarschulen I und II wird es am häufigsten in den naturwissenschaftlichen Fächern (81%) engesetzt, gefolgt von Gesellschaftswissenschaften (79%), Informatik (77%) und Deutsch (76%). Das Fach Informatik ist auch in den berufsbildenden Schulen Spitzenreiter bei der Internetnutzung im Unterricht, so das Ministerium.

Internetrecherche als Hausaufgabe

"Ganz häufig wird das Internet für Rechercheaufträge verwendet", so Niederastroth. Das bestätigen auch seine Kollegen anderer Schulen. Manfred Roppelt setzt die so genannten Webquests im Deutschunterricht der 6. Klasse am Gabrieli-Gymnasium-Eichstätt (Bayern) ein. "Dabei bekommen die Schüler eine feste Aufgabe und führen dann eine gezielte Recherche im Web durch. Aber auch die freie Suche nach Informationen zu einem bestimmten Thema über Google oder andere Suchmaschinen, wie www.blindekuh.de, kommt zum Einsatz", erklärt er.

"Blinde Kuh" ist eine deutschsprachige Suchmaschine für Kinder, die seit 2004 vom Bundesfamilienministerium gefördert wird. Dort finden Schulkinder eine redaktionell betreute Linksammlung zu Themen wie "Umwelt und Technik", "Tiere und Pflanzen" oder auch Tipps zum Forschen, Schreiben, Rechnen, Kochen, Basteln, Malen und Spielen. Es ist die Lieblingsseite von der Fünftklässlerin Gloria Grimm am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Lauterbach (Osthessen): "Da kann man wie bei Google nach verschiedenen Sachen für den Unterricht suchen", sagt sie.

Schüler lernt am Computer
CD-Rom statt SchulbuchBild: AP

Bei Gloria kommt es aber eher selten vor, dass der Lehrer Aufgaben per Internet lösen lässt, erzählt ihre Mutter Regina. Anders sei es bei den beiden Großen – Anna (9. Klasse) und Henrieke (11. Klasse). "Da wird sehr viel für Hausaufgaben, Referate oder Hausarbeiten aus dem Internet bezogen. Ich bin mir aber nicht immer sicher, ob das Lernen auf herkömmliche Weise nicht besser ist", sagt Regina Grimm.

Flinke Schülerfinger

Groß sei vor allem die Ablenkungsgefahr beim Interneteinsatz im Unterricht, so Henning Jöhncke, Politik- und Deutsch-Lehrer an der Wernher-von-Braun-Gesamtschule in Neuhof bei Fulda. Daher sei es wichtig, klare Aufgaben zu stellen. "Wenn Schüler einen Rechercheauftrag haben und wissen, wonach sie suchen sollen, gibt es viele positive Aspekte des Einsatzes des Internets im Unterricht."

Allerdings müssten Lehrer immer aufpassen, dass die Schüler, gerade wenn sie mit ihrer Aufgabe fertig sind, "keinen Blödsinn machen. Es gibt Schüler, die die Zeit für Spiele verwenden und relativ flink mit dem Aufrufen von nicht erlaubten Seiten sind. Das bekommt man als Lehrer meist zu spät mit."

Unerlaubtes können Schüler aber auch treiben, wenn sie ganz legale Seiten aufrufen, zum Beispiel Wikipedia. Die freie Online-Enzyklopädie gilt als Recherchequelle Nummer Eins bei Schülern. Oft würden daraus per "Copy & Paste" ganze Textpassagen übernommen. "Plagiat ist leider ein großes Problem", so Jöhncke.

Klassenzimmer
Vom Computertisch in den Klassenraum: Lehrer können sich im Internet auf Unterricht vorbereitenBild: picture-alliance/dpa

Auch Lehrer übernehmen Unterrichtsstunden von speziellen Seiten im Internet. "Ich persönlich benutze ganz gerne den virtuellen Klassenraum auf "Lo-net", erzählt Markus Niederastroth. "Lo-net" ist eine Arbeitsumgebung, die für den schulischen Einsatz (Unterricht, Lehreraus- und fortbildung) vom Verein "Schulen ans Netz" entwickelt wurde. In virtuellen Gruppen, Klassen- und Privaträumen können Lehrkräfte untereinander und mit Schülern kommunizieren und arbeiten. Rund 500.000 Schüler und Lehrer aus ca. 4000 deutschen Schulen sind dort angemeldet, so Dirk Frank, von "Schulen ans Netz".

Cyber-Studenten studieren virtuell

Das Pendant zum "virtuellen Klassenraum" an Schulen heißt an Universitäten "digitaler Campus". Einen guten Überblick über das virtuelle Lehrangebot der deutschen Hochschulen bietet studieren-im-netz.de. "Das Spektrum der ca. 1500 Angebote reicht von Online-Seminaren und Internet-Vorlesungen über netzbasierte Lehr- und Lernsysteme bis zu kompletten Fern- und Online-Studiengängen", so die Betreiber des Portals.

Eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet des E-Learning beansprucht für sich die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) Aachen. Sie führt zurzeit in Kooperation mit Microsoft eines von drei Pilotprojekten durch, die zur Modernisierung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen beitragen sollen. Das Lehr- und Lernportal L2P verspricht "virtuelle Lernräume für 30.000 Studenten". Nach der Einführung wolle man die Erfahrungen auch anderen Hochschulen zur Verfügung stellen, so die RWTH.

Studenten sitzen in Computer-Saal
Digitaler Campus: Chatten mit dem ProfBild: picture-alliance/dpa

Als Pionier des "digitalen Campus" gilt die Fernuniversität Hagen. "Eine ganze Hochschule geht ans Netz", heißt es dort im Lernraum "Virtuelle Universität". Sie hat bereits 1995 damit begonnen, alle möglichen Funktionen über das Internet zur Verfügung zu stellen. "Wir waren schon virtuell, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Für uns war das Internet natürlich ein großer Segen, weil sich dadurch die Studienbedingungen für unsere Studierenden erheblich verbessert haben", so Birgit Feldmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fachbereiches Informatik.

Ihren rund 43.000 Studierenden verspricht die Fernuni Hagen "eine echte Alternative zum Präsenzstudium". Laut Feldmann ist es "möglich, weitgehend auf Präsenzphasen zu verzichten. Aber man muss auch dazu sagen, dass es ganz schön ist, wenn man den Studierenden gelegentlich auch vor Ort sieht und ein Gefühl für die Person von Mensch zu Mensch bekommt. Unsere Studierenden fragen auch gezielt nach Präsenzphasen, und wir versuchen einfach eine gute Mischung anzubieten", so Feldmann.

Diese Erfahrung machen auch Lehrer an den deutschen Volkshochschulen. Zwar sei das Internet aus dem Lehrbetrieb der VHS nicht mehr weg zu denken, aber nicht alle Online-Angebote seien Selbstläufer. "Für manche Gruppen ist es von Vorteil, anonym in einem virtuellen Raum zu lernen. Das zeigt der Erfolg unseres Portals für Alphabetisierung. Dessen User möchten sich nicht gerne im Präsenz-Unterricht outen. Andere schätzen wiederum sehr unsere Präsenzveranstaltungen", so Bernd Passens vom Deutschen Volkshochschul-Verband.

Technik allein reicht nicht

Auch wenn das Internet seit seiner Anfänge sehr stark von der akademischen Gemeinde genutzt wird, der klassische Frontalunterricht mit Tafelbild wurde bislang nicht durch virtuelle Wissensvermittlung und computergesteuerte Lernprogramme abgelöst. Laut einer OECD-Studie, die auch Daten von 2004/2005 aus deutschen Hochschulen berücksichtigt hat, sind onlinebasierte Lehrangebote in der Regel ergänzende Bestandteile von Campus-Veranstaltungen. "Die Rolle reiner Online-Kurse ist marginal, der Einsatz von IT wirkt sich vor allem in der Hochschulverwaltung aus", so eine der Kernaussagen.

Was die Schulen betrifft gibt es auch Untersuchungen, die die Rolle des Internets im Unterricht relativieren. Eine im Auftrag von Schulen ans Netz erstellte "Evaluation geförderter schulischer IT-Systemlösungen" in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Hessen und Sachsen stellte im Juli 2006 fest: "Obwohl 96,2% der Befragten [1106 Lehrer] bestätigten, dass an ihrer Schule das Internet verfügbar ist, setzt es nur eine Minderheit während des Unterrichts häufig ein. So sagten 69,5%, dass sie das Internet selten bis nie im Unterricht nutzen; 25,7% bescheinigten sich eine häufige Nutzung". Nicht technische Probleme sondern vor allem "persönliche Defizite der Lehrer" seien der Grund für die seltene Nutzung des Internets.

Lehrer erklärt den Schülern etwas an der Tafel
Frontalunterricht trotz Bites und BytesBild: picture-alliance/ ZB

Laut Dirk Frank, von Schulen ans Netz, zeigt dies, "dass es nicht damit getan ist, nur die Infrastruktur in den Schulen zu schaffen, sondern man muss dafür sorgen, dass die Lehrkräfte pädagogische Ideen haben, um entsprechend mit der Technik umzugehen". Deshalb biete SaN seit 2001, nachdem alle Schutz ans Netz gegangen waren, verstärkt pädagogische Angebote und Fortbildungsmöglichkeiten für Lehrkräfte an.

Frank sieht hier ein Generationenproblem (zum Teil überalterte Lehrerschaft) und oft nicht ausreichend Medienbildung im Studium. Der Umgang mit dem Internet sei kein Schwerpunkt in der Ausbildung, bestätigt Anne Völlinger, Lehrerausbilderin in Hessen. "Es liegt an dem jeweiligen Ausbilder, ob er diese Kompetenz als sehr wichtig erachtet."

Web 0.0 an Schulen?

Zurzeit sorgen Berichte aus den USA für Diskussionen an deutschen Schulen, wonach Schulbehörden aufgrund von Leistungseinbrüchen bei Schülern Computer und Internet wieder aus den Klassenräumen verbannen wollen. Auch wenn für viele ein Schulalltag ohne Internet nicht mehr vorstellbar ist, "zumindest allzu blauäugige Projekte, die den Computer als Allheilmittel für den Unterricht ansehen, sollten sicherlich in Frage gestellt werden", sagt Ludger Wößmann, Bildungsexperte am Institut für Wirtschaftsforschung und Professor für Bildungsökonomik (Ifo) an der Universität München. "Alles in allem sollte man sich von Investitionen in Computerausstattung auf keinen Fall die große Wende zu einer besseren Bildung versprechen. Diese können sie nicht leisten, dazu sind andere Reformen notwendig", so Wößmann.

Manche Lehrer zweifeln auch am Nutzen von Computern und Internet im Unterricht. "Das einzige, was es wirklich bringt, ist Medienkompetenz zu vermitteln, den Schülern beizubringen, wie sie fehlerhafte Quellen erkennen und Informationen überprüfen und einordnen können", sagt Manfred Roppelt vom Gabrieli-Gymnasium-Eichstätt. "Und dafür müssen nicht unbedingt alle Klassenräume mit PCs ausgestattet sein. Ein Beamer in jedem Raum mit Anschluss an einem Zentralrechner wäre ideal."

Auch Markus Niederastroth sieht in der IT-Ausrüstung und in der Medienkompetenz der Lehrer allein noch keine Erfolgsgarantie. "Nur wenn die Schüler wirklich etwas lernen und erreichen wollen, ist die Nutzung des Internets sinnvoll. Ansonsten wird gechattet, gespielt oder sonst etwas gemacht." Für die Schüler des Nell-Breuning-Berufskollegs bringe das Medium allerdings neben dem pädagogischen auch einen wichtigen sozialen Vorteil: "Damit sind sie nah an einer Welt, an der einige von ihnen aufgrund ihrer Behinderung sonst nicht teilhaben könnten."