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Polizei verhältnismäßig?

Aarni Kuoppamäki17. Juni 2007

Sechs Jahre nach den heftigen Krawallen beim G8-Gipfel in Genua kommt die Untersuchung der Polizeiaktionen in Gang. In Deutschland soll das schneller gehen, fordern Globalisierungskritiker.

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Ein Steinewerfer - ein Dutzend Polizisten in Kampfmontur (Quelle: AP)
2001 in Genua fiel die Polizei durch übertriebene Härte aufBild: AP

In einer Julinacht 2001 stürmen hunderte Polizisten die Diaz-Schule im italienischen Genua und attackieren blind wehrlose Menschen. Ein Mädchen liegt in einer Blutlache am Boden, Polizisten schlagen zu viert auf sie ein, einer macht obszöne Gesten. Polizeioffizier Michelangelo Fournier nennt die Razzia auf ein Nachtlager der Globalisierungskritiker beim G8-Gipfel vor sechs Jahren eine "Metzelei". Er ist der erste, der den Amok-Einsatz eingesteht, bei dem 70 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Aus Korpsgeist und Vaterlandsliebe habe er bisher gelogen, sagt Fournier beim Strafprozess in Genua. Heute sehe er es als seine Pflicht an, alles aufzuklären. Globalisierungskritiker danken dem Offizier für die offenen Worte, mehrere Politiker fordern einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.

Der Zweck des Gewahrsams

Ein Polizist mit Helm und Visier packt einen demonstrierenden Kapuzenträger (Quelle: dpa)
War auch die deutsche G8-Polizei zu unsanft?Bild: picture alliance / dpa

"Heiligendamm war nicht so schlimm wie Genua", sagt Karen Ullmann, die im Republikanischen Änwältinnen- und Anwälteverein (RAV) juristischen Notdienst für Globalisierungskritiker auf dem G8-Gipfel leistete. "Aber bei Festnahmen gab es massive Übergriffe der Polizei, die so nicht nötig waren". Viele der mehr als tausend Menschen, die in Gewahrsam genommen wurden, hätten zum Beispiel Abschürfungen im Gesicht erlitten, berichtet Ullmann. "Dann gab es da noch eine sadistische Nichtbeachtung von Wünschen." Ein Mandant habe drei Stunden mit auf dem Rücken gefesselten Händen im Auto warten müssen und fast einen ganzen Tag lang nichts zu trinken bekommen. "Natürlich darf die Polizei Messer wegnehmen, und auch Menschen einsperren, aber sie darf nur solche Beschränkungen vornehmen, die dem Zweck des Gewahrsams dienen."

Zigaretten oder Mobiltelefone wegzunehmen, dient dem Zweck des Gewahrsams für Ullmann nicht. Ein japanischer Demonstrant habe in Gewahrsam gar ohne sein Wörterbuch auskommen müssen. "Einigen Polizisten ging es offenbar darum, den Gefangenen zu zeigen: Ihr seid uns unterlegen, ihr seid nichts wert", sagt Ullmann. Einige Frauen hätten in ihrem Käfig aus Langeweile Girlanden zwischen die Gitter gebaut. "Als dann jemand auf Toilette wollte, hieß es: Erst müsst ihr aufräumen." Eine Ursache sieht Ullmann in den Anweisungen an die Beamten: "Die Zahl der verletzten Polizisten war bewusst übertrieben, um die Demonstranten zum Feindbild für die Polizei zu formen." Das linksgerichtete Komitee für Grundrechte und Demokratie, das 30 Beobachter bei den Protesten hatte, resümiert: "Die Polizei ist dem Protest von Beginn aller Planungen an eskalierend und kriminalisierend begegnet."

Die Polizei-Sondereinheit "Kavala" war am Freitag (15.6.) für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Angesichts der Tatsache, dass nur eine Handvoll Festgenommener juristisch belangt werden soll, war ein großer Teil der mehr als 1000 Ingewahrsamnahmen wohl rechtswidrig. Dennoch werden nur wenige Betroffene über die RAV-Anwälte klagen. Denn zu gewinnen gibt es bestenfalls die richterliche Anerkennung, unrechtmäßig festgehalten worden zu sein. Schadenersatz zahlt die Polizei nicht. Im März hat Ullmann vor dem Bundesverfassungsgericht gegen diese Praxis geklagt - das Verfahren läuft womöglich noch Jahre. Falls nötig, will die Rechtsanwältin bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.

Die Frage der Verantwortung

Er, G8-Gegner, sitzt, hat ihren Schoß im Kopf. Davor steht die Poliizei (Quelle: AP)
Die Sitzblockaden blieben weitgehend friedlichBild: AP

Die globalisierungskritische Organisation Attac verlangt parlamentarische Untersuchungsausschüsse zum Polizeieinsatz beim G8-Gipfel. "Wir wollen wissen, wer politisch verantwortlich ist für die schwerwiegenden Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien", sagt Werner Rätz vom Attac-Koordinierungskreis. Die Bundestagsfraktion der Linkspartei stellte bereits vergangene Woche die erste Anfrage im Parlament, am kommenden Mittwoch ist eine Anhörung angesetzt. "Es geht nicht um Einzelfälle, sondern um ein strukturelles Problem", sagt die Linkspartei-Abgeordnete Heike Hänsel. "Die Polizei braucht eine schärfere demokratische Kontrolle und die Beamten eine bessere politische Bildung." Deeskalation beginnt für Hänsel vor einer Großveranstaltung: "Wenn Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ein Klima schafft, in dem das Grundrecht der Versammlungsfreiheit der Sicherheit unterstellt ist, dann agieren die Polizisten anders."

Die Aufarbeitung des Polizeieinsatzes auf dem G8-Gipfel in Genua läuft seit sechs Jahren. Eine Lehre daraus hat sich bereits durchgesetzt: die Treffen der mächtigsten Wirtschaftsnationen der Welt in ländlicher Umgebung zu veranstalten, damit Krawallmacher sie nicht stören können. 2008 steigt der Gipfel im japanischen Dorf Toyako, 2009 auf dem italienischen Inselchen La Maddalena. Deutschland ist 2015 wieder an der Reihe, hat also viel Zeit, Ablauf von Gipfel, Protestaktionen und Gegenmaßnahmen zu bewerten. Diejenigen, die für unrechtmäßige Gefangenschaft in Heiligendamm entschädigt werden wollen, haben es eiliger, meint Rechtsanwältin Ullmann: "Nach drei Jahren ist jeder Anspruch verjährt."