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Hagedorn: "Die UN sind noch nie haftbar gemacht worden"

6. Juni 2007

Hinterbliebene der Opfer des Srebrenica-Massakers haben gegen die UNO und die Niederlande in Den Haag Anklage eingereicht und fordern Schadenersatz. Axel Hagedorn, einer der Anwälte der Kläger, erklärt die Hintergründe.

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Bild: DW
DW-RADIO/Bosnisch: Herr Hagedorn, was möchten Sie mit der Klage erreichen?

Axel Hagedorn: Wir haben eine Zivilklage eingereicht gegen die Vereinten Nationen und den niederländischen Staat im Namen von zehn Einzelpersonen, Müttern und einer Stiftung. Diese Stiftung vertritt rund 6000 Familienmitglieder von Opfern des Genozids von Srebrenica 1995. Was wir erreichen wollen, ist, dass das Gericht feststellt, dass die Vereinten Nationen und der niederländische Staat zusammen haftbar und mitverantwortlich sind für den Völkermord an rund 7000 bosnischen Muslimen in Srebrenica.

Mitverantwortlich: Was heißt das?

Wir haben in den letzten drei Jahren den 6000 Seiten langen Bericht der niederländischen Regierung, den so genannten NIOD-Report, auf die korrekte Substanz zurückgebracht und ihn verglichen mit anderen Berichten: dem französischen, den Berichten anderer Untersuchungskommissionen, dem UN-Report, verschiedenen Urteilen des Jugoslawien-Tribunals ICTY und dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes Bosnien-Herzegowina gegen Serbien und Montenegro. Daraus kann nur eines geschlussfolgert werden: Sowohl die UN als auch der niederländische Staat sind ihren Verpflichtungen aus dem Mandat in Bosnien und aus völkerrechtlichen Verträgen, nämlich der Völkermordkonvention, nicht nachgekommen. Sie hatten das Mandat, die Bevölkerung zu beschützen. Sie haben aber weder die Beobachtungsposten verteidigt noch dafür gesorgt, dass die Hilfskonvois durchkamen, sie haben weiterhin bei der Deportation mitgeholfen, sie haben später noch nicht einmal die Gräueltaten von Potocari gemeldet. Dabei hätten sie auch Gewalt einsetzen können, mit dem ultimativen Mittel der Luftunterstützung.

Und: Wurde Luftunterstützung angefordert?

Ja, die niederländischen UN-Soldaten haben angesichts des bevorstehenden Angriffs und der Einnahme von Srebrenica neun Mal Luftunterstützung angefordert – allerdings vergeblich. General Cees Nikolai hat sieben Anfragen gar nicht erst weitergeleitet. In Holland wird immer gesagt, die Vereinten Nationen hätten die Luftunterstützung verweigert, dabei sind die Anfragen innerhalb der Kommandostruktur der Offiziere versickert. General Nikolai hat damals entschieden, dass die Voraussetzungen für eine Luftunterstützung nicht gegeben waren. Dabei hat der UN-Bericht später festgestellt, dass selbst bei strengster Auslegung des Mandats die Voraussetzungen dafür sehr wohl vorgelegen haben – und zwar bereits am 6. Juli, also fünf Tage, bevor die Enklave fiel. Als dann endlich die beiden letzten Anforderungen bei General Bernard Janvier ankamen, griff der sofort ein, um die Luftangriffe zu stoppen.

Heißt das, die Offiziere wollten die Angriffe der serbischen Kräfte gar nicht verhindern? Wenn ja, warum?

Sie wollten nichts tun und haben auch nichts getan – ob sie die Angriffe der Serben nicht verhindern wollten, ist eine andere Frage. Die Offiziere des niederländischen Bataillons hatten es ihren Soldaten freigestellt, zu den Serben überzulaufen, anstatt ihrer Aufgabe, dem Schutz der Enklave und ihrer Bevölkerung, nachzugehen. Schlussendlich wurden sie praktisch als Geiseln genommen, mit Genehmigung der höheren Offiziere. Diese 30 Geiseln wurden hinterher gebraucht, um zu begründen, warum man keine Luftangriffe wollte. Das heißt, man hat das Schicksal von 30 niederländischen Soldaten gegen das Schicksal der vielen tausend Menschen in der Enklave aufgewogen.

Viele Fakten waren auch bereits früher bekannt, sei es aus Medienberichten oder Zeugenaussagen. Was ist an Ihrer Klage neu?

Wir stellen klar, dass das Mandat der Blauhelmtruppe absolut eindeutig war: Die Bevölkerung und die Enklave sollten beschützt werden. Das ist nicht passiert. In Holland heißt es außerdem immer, man sei von der UNO im Stich gelassen worden – das sagt sogar die parlamentarische Untersuchungskommission. Aber auch das ist nicht richtig. Beides sind meines Erachtens keine allgemein bekannten Tatsachen.

Welches Ziel verfolgen Sie als Vertreter der Kläger?

Es geht um Anerkennung und Genugtuung. Unser Hauptansatzpunkt ist, feststellen zu lassen, dass etwas falsch gelaufen ist und dass sowohl die Niederlande als auch die UNO dafür haftbar sind. In zweiter Instanz geht es um Genugtuung – gemeint ist damit auch eine finanzielle Kompensation. Nur: Wie soll man mit Geld den Verlust von ein, zwei, vier, fünf, zehn oder zwanzig Familienmitgliedern bemessen? Das ist eine ganz besondere Extraaufgabe.

Wären Sie auch zu einem Vergleich bereit?

Man muss sehen, dass man im Gespräch miteinander bleibt, denn das Verfahren kann zehn, zwölf oder sogar noch mehr Jahre dauern. Das ist aber nicht im Sinne unserer Mandanten. Bis jetzt haben allerdings weder der niederländische Staat noch die UN reagiert. Das ist sehr auffällig: Mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladic hat man geredet, mit den hinterbliebenen Müttern nicht.

Bei diesem Prozess sitzt die UN erstmals auf der Anklagebank. Wird damit ein neuer Abschnitt im internationalen Recht eingeleitet?

Absolut. Es ist noch nie passiert, dass die Vereinten Nationen für etwas haftbar gemacht werden sollen. Natürlich lautet dabei die Frage: Genießen die UN Immunität? Bei einer wie auch immer gearteten Beteiligung an einem Genozid muss dies von einem Gericht überprüft werden. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Immunität in diesem Fall nicht gelten kann.

Das Interview führte Zoran Arbutina
DW-RADIO/Bosnisch, 6.6.2007, Fokus Ost-Südost