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EU-Zeugnis für die Türkei: mangelhaft in fast allen Bereichen

2. November 2006

Die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei haben erneut einen Rückschlag erlitten: Brüssel sagte das geplante Zypern-Krisentreffen ab. Auch im Fortschrittsbericht werden nur sehr wenige Fortschritte zu lesen sein.

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Schafft es die Türkei noch in die EU?Bild: AP

"Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber die Dinge laufen schlecht“, sagte EU-Kommissionspräsident José Barroso Ende Oktober in einem Zeitungsinterview. Der Bericht zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, den die EU-Kommission am 8. November offiziell vorlegen wird, heißt zwar "Fortschrittsbericht", doch der Inhalt wird dem Titel nicht gerecht. Auch EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn stellte bereits fest, dass es in der Türkei seit letztem Jahr keine Fortschritte mehr gegeben habe. Die politischen Reformen seien insgesamt ins Stocken geraten.

Seit Monaten fordert Rehn, die Türkei müsse ihren "Reformschwung“ wiederfinden, "um Rechtsstaatlichkeit, Grundfreiheiten und Menschenrechte in dem Land voran zu bringen". Denn die Analysen haben nichts Positives ergeben: Die Meinungsfreiheit sei weiterhin eingeschränkt, heißt es im Entwurf des Fortschrittsberichts, aus dem die "Financial Times Deutschland" am 31. Oktober zitierte. Das Militär unterliege nicht vollständig ziviler Kontrolle, noch immer werde von staatlichen Stellen die Folter angewendet. Minderheiten würden nicht ausreichend geschützt, Korruption und mangelnde Unabhängigkeit der Justiz seien problematisch.

Offener Streit um Zypern

Besonders frustriert sind die Verhandlungsführer der EU darüber, dass sich in der Zypernfrage nichts bewegt hat. Und das, obwohl die Türkei bei Beginn der Beitrittsverhandlungen vor einem Jahr zugesichert hatte, zyprische Schiffe und Flugzeuge abzufertigen und damit das EU-Mitglied Zypern wenigstens indirekt anzuerkennen. EU-Kreisen zufolge weigert sich die Türkei allerdings weiterhin, sich mit Vertretern der Zypern-Griechen an einen Tisch zu setzen. Die EU drängt darauf, dass Ankara die türkischen Häfen und Flughäfen bis zum Jahresende für Schiffe und Flugzeuge aus Zypern öffnet.

Der deutsche Außenminister Frank Walter Steinmeier sah beim letzten Treffen der EU-Außenminister mit dem türkischen Ressortchef Abdullah Gül Mitte Oktober in Luxemburg keinen Fortschritt. "Sie wissen, dass nicht nur hinter den Kulissen, sondern offen gestritten wird." Gül hatte in Luxemburg gesagt, sein Land könne sich nur auf die griechisch-zyprische Republik zu bewegen, wenn die Isolation der türkischen Zyprer im Norden der geteilten Insel beendet werde. Zypern droht mit einem Veto gegen die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen.

Gibt es bis zum Jahreswechsel keine Annäherung, kann die EU die Verhandlung wichtiger Beitrittskapitel mit der Türkei auf Eis legen und so den ganzen Prozess stoppen. Die finnische EU-Ratspräsidentschaft versucht fieberhaft, bis zum Gipfeltreffen der Union Mitte Dezember einen Kompromiss zu finden. Denn ein Aussetzen der Türkei-Verhandlungen wäre für die EU eine politische Katastrophe. Die EU sei für die Türkei extrem wichtig als Motor für das Wirtschaftswachstum und als Anker für die Demokratisierung. In Europa unterschätze man die strategische Bedeutung der Türkei als Brücke zwischen den Zivilisationen.

Merkel erbt Türkei-Problem

Einige Mitgliedsstaaten wollen der Türkei jetzt die rote Karte zeigen und die Beitrittsgespräche, die auf einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren angelegt sind, aussetzen. Andere Mitgliedsstaaten, wie zum Beispiel Großbritannien, befürchten, dass ein solcher Schritt die wachsende Ablehnung der EU in der türkischen Bevölkerung noch verstärken würde. Davon könnten europafeindliche Parteien bei den anstehenden Wahlen im kommenden Jahr profitieren. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, selbst Gegnerin einer Vollmitgliedschaft der Türkei, wird das Problem aller Voraussicht nach als künftige Ratspräsidentin der EU im ersten Halbjahr 2007 erben.

Trotz aller Kritik attestiert die EU-Kommission der Türkei auch einige Fortschritte in ausgewählten Politikbereichen. So sei die Ausbildung von türkischen Juristen und Richtern verbessert worden. Die Schaffung eines Bürgerbeauftragten, bei dem Beschwerden erhoben werden können, sei eingeleitet worden. Und immer häufiger könnten sich Bürger im Rechtsstreit mit der Verwaltung um Schadensersatz durchsetzen.

Bernd Riegert

DW-RADIO/Brüssel, 31.10.2006, Fokus Ost-Südost