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Presseschau: "Haudegen bereit zum Streit"

14. August 2006

Internationale Medien reagieren überwiegend empört auf das Bekenntnis von Günter Grass, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein.

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Günter Grass (2005)Bild: picture-alliance/ dpa

Die niederländische Zeitung Trouw schreibt am Dienstag:

"Grass hat eine simple Erklärung: Viele Jüngere waren wie er selbst begeistert von dem antibürgerlichen, revolutionären Elan des Nationalsozialismus. So enthält sein Eingeständnis die nicht misszuverstehende, aktuelle Botschaft, dass radikale Ideologien eine starke Anziehungskraft haben. Und auf eine paradoxe Weise ist es auch eine Anerkennung, dass die bürgerlichen Werte, gegen die Grass sich stellte, wichtig sind. Schade, dass er es nicht früher eingestanden hat. Aber lieber spät als gar nicht. Und wie auch immer, mit seinem Eingeständnis beweist Grass seine moralische Integrität."

Die konservative dänische Tageszeitung Berlingske Tidende meint am Dienstag:

Die Meute der Verärgerten umringt nun den deutschen Schriftsteller Günter Grass, nachdem der von seiner Jugend in der Waffen-SS berichtet hat. Er müsse den Nobelpreis aberkannt bekommen, sein Werk liege in Trümmern, heißt es. Man sollte sich an Jesu' Wort erinnern: 'Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.' Dass öffentliche Personen wie Grass (...) ihre Leichen im Keller verschweigen, erscheint menschlich verständlich. Schwer zu verstehen ist dagegen, wenn sich dieselben Personen als Teilnehmer an der öffentlichen Debatte ganz hoch auf das moralische Ross setzen. Warum trägt man nicht zu einer Nuancierung der Diskussion bei, wenn man doch aus eigener, schmerzhafter Erfahrung weiß, wie leicht man auf der falschen Seite landen kann? Vermutlich, weil die öffentliche Fassade zum Instrument der persönlichen Verdrängung wird. (...) Aber besser spät als gar nicht. Der große Dichter und alte Haudegen Grass scheint bereit zum Streit.

Die römische Zeitung La Repubblica meint:

Günter Grass, Nobelpreis-Symbol des wiedervereinigten Deutschlands und zugleich Schutzherr der linken Kultur und Literatur Europas, hat in seiner Jugend die Uniform der Waffen-SS angezogen. (...) Das Bekenntnis von Grass ist wie ein globaler Schock. Er, der (1927 geboren) in der Nachkriegszeit stets für die Linke und eine antikapitalistische und antiamerikanische Opposition kämpfte, bekennt jetzt, dass der anti-bürgerliche Charakter der Nazis entscheidend für seine Generation war. Und dass er sich für einen freiwilligen Beitritt zur Waffen-SS entschied, um sich von seinen Eltern zu befreien. (...) Mit schmerzhaftem Mut entschied sich Grass jetzt, jene Zweideutigkeit und Schuld seines Vaterlandes anzunehmen, die der Vergangenheit angehört, die aber unauslöschlich ist.

Die Neue Zürcher Zeitung schreibt:

In der Pose des selbstgewissen und von Eitelkeit nicht freien Moralisten versucht Günter Grass noch aus seinem Schuldgeständnis ein ästhetisch-ethisches Kapital zu schlagen. In Wahrheit wohnen wir einer Selbstdemontage bei. Wird das Werk - das wie kein anderes die deutsche Schuldverstrickung im Nationalsozialismus zu seinem unerschöpflichen Thema gemacht hat - von diesem späten Bekenntnis beschädigt? Nein, denn die Literatur folgt ihren eigenen Gesetzen, und manches aus dem Frühwerk hat Bestand. (...) Das lange Schweigen und die inszenierte Form des Bekenntnisses lassen jedoch manche polemische Intervention noch nachträglich fragwürdig erscheinen.

Die kanadische National Post kommentiert:

"Am Freitag kam die Nachricht: Im Alter von 78 gesteht der wichtigste deutsche Schreiber seiner Zeit, dass er in der Waffen-SS diente, der Verkörperung des Nazi-Bösen. (…) Er besetzte eine Rolle, die in Kanada, den USA oder Großbritannien keine Parallele hat: Er war der Chef-Moralist, oft das Gewissen der Nachkriegsgeneration genannt. Er glaubte die Deutschen seien nur allzu bereit, die Verbrechen der Nazis zu vergessen, speziell den Holocaust. Zu Recht glaubte er, diese Wunde würde offen bleiben, wie er bei der Verleihung des Nobel-Preises sagte. (…) Während seiner langen Karriere als öffentliche Person verpasste er selten eine Gelegenheit, sich für Freimütigkeit auszusprechen. "Es ist die Aufgabe des Bürgers, den Mund aufzumachen", sagte er gerne. Offensichtlich aber natürlich nicht in jedem Fall.

Im "Világfalu" (= Global Village), dem Korrespondenten-Blog der ungarischen Tageszeitung Népszabadság heißt es:

"Es wird offensichtlich noch eine Fortsetzung geben. Denn (auch) die Deutschen lieben es, in schmutziger Wäsche zu wühlen. Zugegeben: Diesmal ist allerdings wirklich etwas dran: Grass hat quasi jeden dunklen Aspekt der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts rauf und runter besungen, während ihm die dunkle Seite seiner eigenen - und leider denkbar typischen - Lebensgeschichte noch nicht mal einen kurzen Tagebucheintrag wert gewesen ist." (sam)