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Ein Geschichtsbuch macht Geschichte

Barbara Gruber10. Juli 2006

Es ist ein Meilenstein in den deutsch-französischen Beziehungen: In Deutschland kommt ein Geschichtsbuch heraus, das in beiden Ländern enstand und auch in französischen Schulen benutzt wird.

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Deutsch-französische Freundschaft und GeschichteBild: dpa

Mit zwei blutigen Weltkriegen und der Gründung der Europäischen Union hatten die deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert ihre Tiefen und Höhen. Was noch vor 60 Jahren undenkbar gewesen wäre, ist jetzt Realität geworden: Deutsche und Franzosen haben sich zusammengetan, um erstmals gemeinsam ein Geschichtsbuch zu verfassen.

Zwei Perspektiven

Das Buch "Histoire/Geschichte – L’Europe et le monde depuis 1945 (Europa und die Welt seit 1945) (Klett Verlag/Editions Nathan) wurde vergangenen Monat in Frankreich veröffentlicht. In deutschen Buchhandlungen wird das Buch ab Montag (10.7.) für 25 Euro erhältlich sein.

"Der Leser hat immer zwei Perspektiven, mindestens zwei Perspektiven, und das gibt den Schülern die Möglichkeit, ihren eigenen Standpunkt zu finden, eine eigene fundierte Meinung zu bilden und ihre eigene Vorstellung von der Geschichte dieser beiden Nationen zu entwickeln", sagt Peter Geiss, einer der beiden Herausgeber des Geschichtsbuches. "Für einen Geschichtsunterricht im Sinne der Demokratie und des Liberalismus ist das sehr wertvoll."

"Histoire/Geschichte" - deutsch-französisches Schulbuch Cover
gemeinsame GeschichteBild: klett

Buch mit psychologischen Wirkungen

Zehn Historiker, je fünf aus jedem Land, haben zu diesem bilateralen Buch-Projekt beigetragen. Das Lehrbuch wird ab kommendem Schuljahr als Lehrbuch im Geschichtsunterricht eingesetzt werden. Das Ergebnis ist nicht nur ein Markstein in den deutsch-französischen Beziehungen, sondern auch ein Meilenstein für Deutschland selbst: Es ist das einzige Lehrbuch, das von allen 16 Bundesländern anerkannt wurde.

Das Buch sei nicht nur durch seine erzieherische Bedeutung wichtig, sondern auch durch seine psychologischen Wirkung, glaubt das Auswärtige Amt: Junge deutsche und französische Schüler lernen nicht nur ihre eigene Geschichte kennen, sondern werden auch mit der Geschichte Europas vertraut gemacht - und das mit Hilfe desselben Buches.

Schüler sind nicht nur Zielgruppe, sondern auch Initiatoren des Projekts: Zum 40-jährigen Jubiläum des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags schlugen Teilnehmer des Treffens des Deutsch-Französischen Jugendparlaments im Jahr 2003 das Projekt vor. Die Idee wurde vom Auswärtigen Amt und vom französischen Bildungsministerium aufgegriffen.

Didaktische Differenzen

"In Deutschland versuchen wir, den Schülern einen möglichst großen Freiraum zur Informationsbeschaffung zu geben", sagt der Herausgeber Geiss. "Wir bemühen uns, die Information nicht in einer schematischen Art und Weise aufzubereiten. Es war aber schwierig für unsere Partner, zu verstehen, dass historische Fragen ungeklärt und offen bleiben können." Dies sei nicht die einzige Hürde gewesen, die das internationale Team zu überwinden hatte - auch die Informationen selbst hätten zu Auseinandersetzungen geführt. "Unterschiede in den Anschauungen wurden aber nicht verschwiegen, sondern von den Autoren des Buches erläutert", sagte Geiss.

Streitpunkt USA

"Histoire/Geschichte" - deutsch-französisches Schulbuch Autor
Dr. Peter Geiss, einer der beiden Herausgeber des GeschichtsbuchesBild: klett

Traditionell seien die USA für Frankreich eine Art Konkurrent mit großer Macht, während Amerika in Deutschland nach 1945 nie als Konkurrent gesehen worden sei, erklärt Geiss. "Im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit ist die Erinnerung an den amerikanischen Beitrag zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung immer noch wach. Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wird mit der amerikanischen Präsenz in Deutschland verbunden.

Der Kommunismus war ein weiteres Problemfeld. Während die kommunistische Bewegung in den 1950-er und 1960-er Jahren in Frankreich von großer politischer Bedeutung war, wird Kommunismus in Deutschland mit Diktatur, mit der Regierung in der DDR und der Expansion der Sowjetunion assoziiert.

80 Prozent des Inhalts sind in beiden Übersetzungen identisch, berichtet das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern. Unterscheiden sollen sich die Beurteilung der US-Politik und der Geschichte der DDR. Abweichungen gibt es auch in der Darstellung der französischen Kolonialgeschichte und der Christlichen Kirche.

Selten behandelte Themen

Der Titel des Geschichtsbuches hebt deutlich hervor, dass die Historie erst nach 1945, also nach dem Zweiten Weltkrieg, verfolgt wird. Damit vermeiden die Autoren die empfindlichsten geschichtlichen Streitpunkte der Weltgeschichte. Allerdings werden auch zwei Bücher auf den Markt kommen, die sich mit der Zeit vor 1945 beschäftigen. Eines von ihnen, das 2007/2008 veröffentlicht werden soll, beschäftigt sich mit dem Zeitraum vom Wiener Kongress bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Das zweite, in den Buchhandlungen ab kommendem Jahr erhältlich, behandelt den Zeitraum von der Antike bis Napoleon.

Das jetzt veröffentlichte Geschichtsbuch geht mit der Behandlung der Nachkriegsgeschichte einen für Frankreich neuen Weg. "In Frankreich wurde diese Thematik im Unterricht selten behandelt", sagt Frédéric Munier, Lehrer an der Henri-IV-Universität in Paris. "Das Geschichtsbuch bietet eine Reihe von Dokumenten und analysiert viel, und das wiederum ermöglicht den Schülern ein besseres Verständnis ihrer eigenen Geschichte."

Lockerer Umgang

Angela Merkel bei Jacques Chirac Frankreich
Der französische Präsident Jacques Chirac begrüßt Bundeskanzlerin Angela MerkelBild: AP

Primärquellen eröffneten den Schülern neue Erkenntnisse über sich und ihre Nachbarn, sagte Daniel Henry, einer französischen Autoren, "ein Beispiel ist die berühmte Rede des ehemaligen Präsidenten Richard von Weizsäcker, die er am 40. Jahrestag des Kriegsendes hielt."

Für die Schüler hat das Buch vor allem auch einen besonderen Vorzug: Es sind sehr viele Bilder darin. Auch wenn es kaum noch auffällt: Der lockere Umgang der heutigen Jugendlichen mit dem Lehrbuch ist vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Konflikte im 20. Jahrhundert historisch bemerkenswert. "Für die heutige Jugend scheint es selbstverständlich und auch interessant zu sein, von einem deutsch-französischen Geschichtsbuch zu lernen. Meine Oma ist aber entsetzt von dieser Tatsache", erklärt Munier.