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Das neue Sci-Fi-Fieber

Kay-Alexander Scholz1. Juni 2006

Einstein hat nur 10 Prozent seiner Gehirnmasse genutzt. Was ist mit dem Rest? Die umstrittene These bewegt bereits Generationen von Neurowissenschaftlern und Science-Fiction-Autoren. TV und Kino geben neue Antworten.

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Halle Berry als Marvel-Girl in "X-Men: Der letzte Widerstand": Sie kann das Wetter beeinflussenBild: picture-alliance/ dpa

Alle 20.000 Jahre macht die menschliche Evolution einen Sprung. Von dieser These handeln die "X-Men"-Filme, deren 3. Teil derzeit für Hochbetrieb an Kinokassen sorgt. Beweise dafür sind die Protagonisten selbst. Sie sind Mutanten - Menschen, die dank ihres besonderen Gen-Codes übermenschliche Fähigkeiten besitzen. Gute Mutanten kämpfen gegen böse Mutanten und darum, ob ihre Fähigkeiten zum Wohle der eher feindlich gesinnten Rest-Menschheit eingesetzt werden. Das Marvel-Girl ist eine Telekinetin, Angel ein geflügelter Mutant, der Cyclops kann optische Strahlen aus seinen Augen schießen. Sie haben ihr Zuhause abseits der Zivilisation unter dem Deckmantel einer "Schule für Hochbegabte" gefunden, die von Professor X (Patrick Stewart) geleitet wird. Quelle ihrer Superkräfte ist allen gemeinsam ein spezieller Gen-Abschnitt auf dem X-Chromosom.

Im deutschen Fernsehen gerade angelaufen, in den USA schon ein Riesenerfolg ist die von Francis Ford Coppola produzierte TV-Serie "4400 - Die Rückkehrer". Sie erzählt das Schicksal von 4400 Menschen, nachdem diese von Menschen aus der Zukunft gekidnappt, in einem Krankenhaus behandelt und dann - ohne Erinnerung daran - zurück in die Vergangenheit geschickt wurden. Sie sollen den Lauf der Geschichte ändern und damit den Untergang der menschlichen Zivilisation verhindern. Dafür wurden ihre Gehirne mit der speziellen "4400"-Technologie optimiert: Die Menschen der Zukunft haben brach liegende Gehirn-Verdrahtungen bei ihren Vorfahren aktiviert, um schlummernde Fähigkeiten freizusetzen.

Von Superhelden zu Supermenschen

Filmhelden mit Superkräften sind keine Neuheit. "Superman" in den 1940er-Jahren war der erste von ihnen. Ihm folgten rund ein Dutzend weiterer Comic-Helden, darunter "Spiderman" und "Superwoman". In der 1980er-Jahren stand die Faszination Mensch und Technik im Mittelpunkt vieler Geschichten. Die "Star Treck"-Borgs, "Robo-Cop" oder "Blade Runner" sind Mischungen aus Mensch und Maschine.

In den 1990er-Jahren tauchte das Thema Superkräfte wieder verstärkt in TV-Serien auf. Ganz normale Mädchen wurden zu Hexen im Kampf gegen Dämonen ("Charmed" oder "Buffy"). Leute von nebenan wurden durch übersinnliche Fähigkeiten verschreckt ("Akte X"). Die Serien bedienten allerdings eher eine romantische Hinwendung an Traditionen längst vergangener Zeiten vor dem Siegeszug von Aufklärung und Wissenschaft, als dass sie Technologien als Katalysatoren einer gedachten Zukunft huldigten.

Nun hat Science-Fiction eine neue, faszinierende Wendung erfahren. Aus den Einzelkämpfern sind Gruppen von Individuen geworden, deren Anderssein zum möglichen Schicksal eines jeden wird. Die "4400" bekamen ohne eigenes Zutun ein optimiertes Gehirn. Die "X-Men" leben mit angeborenen Mutationen - nur einer fällt aus der Reihe, weil er eine Laborzüchtung aus Wolf, Mensch und Supermetall ist. Sie sind das Ergebnis menschlicher Evolution und stehen in sozialer Konkurrenz zu den Normalos, die Angst vor ihnen haben, weil sie anders und besser sind.

Was so alles in uns schlummert

Natürlich ist alles Fiktion. Dennoch finden sich reale Vorbilder - nämlich in der Forschung über Autisten. Spätestens seit "Rain Man" sind Autisten einem breiten Kino-Publikum bekannt. Noch vor 20 Jahren galten die Betroffenen als geistig behindert.

Jeder zehnte Autist hat außergewöhnliche Begabungen, so genannte Insel-Begabungen. Eine hervorragende dreiteilige öffentlich-rechtliche TV-Dokumentation aus Deutschland porträtiert solche Autisten, auch Savants genannt. Sie beherrschen 25 Sprachen, sind Zahlengenies, können Klavier spielen, ohne es gelernt zu haben oder riesige Stadtpläne aus jeder erdenklichen Perspektive zeichnen.

US-Wissenschaftlerin und Autistin Temple Grandin Porträtfoo
Temple Grandin plant tiergerechte Anlagen für die Viehzucht wie Pferche, Gatter und RampenBild: picture-alliance / dpa

Autisten können besonders gut logisch Denken – auf Kosten der sozialen Fähigkeiten wie Sprechen und Mimiken lesen. Das hat die Betroffenen in früheren Zeiten meist ins soziale Abseits gestellt. Im zaristischen Russland etwas glaubte man, dass autistische Kinder als besonders religiöse Menschen zur Welt gekommen sind und dass die "heiligen Narren" sich freiwillig für ein Leben jenseits aller Konventionen entschieden haben. Heute werden sie untersucht, gefördert und ans Leben herangeführt. Sie können wie die berühmte US-Amerikanerin Temple Grandin Professorin für Verhaltensforschung oder als Ehepaar zusammen in einer Wohnung leben.

Autismus hat genetische Ursachen, sagen die meisten Wissenschaftler. Damit lassen sich aber nicht alle Fälle erklären. Andere Forscher behaupten, zu viel Männlichkeitshormone im Mutterbauch oder neurologische Unfälle seien Schuld. Es gibt den berühmten Fall eines ehemaligen Schlägertypen, der nach einem Schlaganfall zu einem zahmen und hoch begabten Bildhauer wurde. Sein Gehirn wurde neu verdrahtet, erklärten seine Ärzte.

Die Geek-Autismus-Connection

Ein Ort mit einer extrem hohen Dichte an technischer Intelligenz ist das Silicon Valley in Kalifornien. Die Zahl der autistischen Kinder dort steigt seit Jahren deutlich an, im Laufe der 1990er-Jahren hat sich deren Zahl verdreifacht. Die am häufigsten vorkommende, mildere Variante des Autismus, das Asperger-Syndrom, wird auch Geek- oder Nerd-Syndrome genannt. Die Kinder verlieren sich häufig in technischen Monologen oder halten Ordnung bis zur Obsession.

Und das soll an ihren typischen Computerfreak-Eltern liegen. Dieselben Gene, die das Genie des Silicon-Valley-Programmierer beförderten, könnten im Übermaß bei deren Kindern zur Krankheit führen, befürchtet etwa der Neurologe Dan Geschwind von der University of California. Die Autisten Temple Grandin sagt dazu: "Es ist ein Kontinuum. Da gibt es keine klare Trennlinie zwischen einem Computer Tekkie und jemanden mit einem Autismus-Syndrom. Sie passen einfach gut zusammen". Der Autismus-Forscher Simon Baron-Cohen gibt zu, dass Autismus in Familien von Ingenieuren, Mathematikern, Physikern und Informatikern häufiger auftritt. "Zu einer anderen Zeit hätten diese Leute als Mönche gearbeitet", sagt die Medizinierin Bryna Siegel. "Heute jedoch verdienen sie 150.000 Dollar im Jahr und pflanzen sich sehr erfolgreich fort."

Der australische Hirnforscher Allan Snyder behauptet, dass Savant-artiges Denken auch in unseren Gehirnen unbewusst abliefe und lediglich durch höhere kognitive Prozesse überlagert werde. Wir alle könnten daher ohne weiteres lernen, wie geniale Autisten zu denken. Im Kino und im Fernsehen jedenfalls ist ein besonderes Interesse dafür bereits erwacht.