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Usbekistan: „Wir stehen ständig kurz vor einer Explosion“

11. Mai 2006

Stagnation, Feindbilder, Propaganda und Repressionen - das sind die Auswirkungen der Ereignisse von Andischan auf die Lage in Usbekistan heute, erläutert im Gespräch mit DW-RADIO der usbekische Soziologe Bahodyr Musajew.

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Usbekischer Präsident Karimow: Politik wie zu Zeiten Breschnews?Bild: AP

Am 13. Mai 2005 wurde in Ferganga-Tal, in Andischan, auf brutalste Weise eine Protestaktion friedlicher Bürger niedergeschlagen. Hunderte von Menschen wurden getötet. Usbekistan ist ein absurdes Land, meint der unabhängige usbekische Soziologe Bahodyr Musajew. Öffentlich dürfe man über die sozialen Hintergründe der Tragödie von Andischan nicht diskutieren. Diejenigen, die dies versuchten, würden von der Staatsmacht verleumdet und der Lüge bezichtigt.

Verdrehte Wirklichkeit

Im Gespräch mit der Deutschen Welle sagte der Soziologe: „Im Laufe dieses Jahres haben die Behörden Lügen und Desinformation über die Ereignisse von Andischan verbreitet, obwohl wir wissen, dass Journalisten Zeugen waren. Jetzt wird all den Journalisten vorgeworfen, zu lügen. Jetzt hat Andischan folgende Nebenwirkungen: es wird verstärkt das Bild eines äußeren Feindes aufgebaut, das ist eine neue Entwicklung nach den Ereignissen von Andischan. In den usbekischen Medien und in der Propaganda der Ideologen des Regimes wird immer häufiger der Begriff ‚Informations- und Psycho-Attacke auf Usbekistan‘ verwendet. Im Lande werden unter den Menschen die unterschiedlichsten Phobien wiedererweckt, wonach es ringsum nur Feinde gibt. Unter der Sowjetmacht gab es früher Volksfeinde, jetzt gibt es Feinde der Nation. Alles wird verdreht. Im usbekischen Fernsehen sind schöne Bilder zu sehen, geprägt von sozialem Optimismus und der tiefen Überzeugung, dass uns eine lichte Zukunft erwartet, dass wir eine weise Regierung haben, dass im Lande geduldige und aktive Werktätige leben, die das Land aufbauen. Alle sind zufrieden.“

Zurück zum Stalinismus?

Dies alles erinnert Musajew an die Stagnation unter der Sowjetmacht. Er sagte: „Das erinnert mich persönlich an die Stagnation der Breschnew-Zeit. Damals gab es auch keine Offenheit, es gab nur eine große Lüge. Menschen, die Initiative zeigen, werden geknebelt. Die Folge ist zunehmende Apathie und Politikverdrossenheit in der Gesellschaft. Bei uns kann man sich mit allem befassen, nur nicht mit Politik. Die Menschen wissen, dass politische Betätigung strafbar ist. Das alles ähnelt sehr den Zeiten der Stagnation.“ Die Repressionen gegen Andersdenkende werden Musajew zufolge in Usbekistan fortgesetzt und planmäßigen Charakter annehmen. Der Soziologe unterstrich: „Der nächste Schritt der Regierung wird eine gezielte Hexenjagd sein. Das wird ganz klar die Politik eines stalinistischen Staates sein.“

Ungewisse Zukunft

Die Aussichten auf eine baldige „Perestrojka“ in Usbekistan sind nach Ansicht des usbekischen Soziologen Musajew gering: „Die Bürokratie, die Machtstrukturen sind mächtig und die Menschen träge. Es gibt keine weltliche Opposition, die vor Ort, in den Regionen tätig ist. Wie kann auch eine Opposition unter unseren Bedingungen aktiv werden? Sie konnte sich auch vor den Ereignissen von Andischan nicht erheben. Aber man muss sagen, dass die usbekische Opposition im Ausland aktiver geworden ist.“

Musajew ist der Ansicht, dass die Tragödie von Andischan versteckte Probleme in der usbekischen Gesellschaft aufgedeckt hat. Nach den Mai-Ereignissen des vergangenen Jahres seien zudem bei den meisten Menschen die letzten Illusionen, was die Politik der usbekischen Staatsmacht betrifft, geplatzt. Der Soziologe sagte: „Wir wissen nicht, was morgen passiert. Wir stehen ständig kurz vor einer Explosion. Ein solcher Staat kann keine Zukunft haben, in dem Menschenrechte systematisch verletzt werden, in dem die Menschen nicht an ihre Zukunft glauben, in dem es genügend Beispiele für Willkür seitens der Staatsorgane gibt, die eigentlich Wächter des Rechts sein müssten.“

Natalja Buschujewa, Taschkent

DW-RADIO/Russisch, 10.5.2006, Fokus Ost-Südost