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Das Faustrecht regiert in der russischen Armee

Cornelia Rabitz23. Februar 2006

Die russische Armee leidet unter "Dedowschtschina". Das bedeutet so viel wie "Herrschaft der Älteren" und bezeichnet die brutale Herrschaft der Älteren über die Jüngeren in der Armee. Die Folgen sind fatal.

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Demonstration gegen die Misshandlung von RekrutenBild: AP

Einst waren sie Ruhm und Stolz einer Supermacht - heute leiden sie unter Verfalls- und Mangelerscheinungen: Russlands Streitkräfte sind schon lange nicht mehr das, was sie zu sowjetischen Zeiten waren. Die Ausrüstung ist veraltet, die Kasernen verrotten, die Verpflegung ist miserabel, es herrscht chronischer Geldmangel - auch in den Taschen der Armeeangehörigen. Sogar Offiziere müssen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien zu sichern, Nebenjobs machen.

Russische Soldaten bereiten einen Granatwerfer vor
Russische Soldaten in DagestanBild: AP

Kriminalität und Korruption blühen. Es wird verkauft, was nicht niet- und nagelfest ist: Fahrzeuge, Treibstoff, Waffen. Schätzungsweise ein Drittel der Armeeangehörigen lebt unter der offiziellen Armutsgrenze. Davon will Russlands Präsident Wladimir Putin, wie andere führende Politiker des Landes, freilich wenig wissen. "Die Streitkräfte sind das wichtigste Attribut der Staatlichkeit und ein Garant der Souveränität unseres Landes", sagt der Präsident. "Die Armee muss bereit sein, für globale Stabilität zu sorgen und Russland vor jeglichen Versuchen des militärpolitischen Drucks und der Erpressung durch Stärke zu schützen."

Junge Rekruten als Arbeitssklaven missbraucht

Auch im Inneren der Armee sieht es anders aus, als Wladimir Putin der Öffentlichkeit weismachen möchte. Zum äußeren Verfall kommt die Zerstörung der Moral, die Verrohung der Menschen. "Dedowschtschina" legt hiervon Zeugnis ab, die "Herrschaft der Großväter". Anders gesagt: Die systematische Drangsalierung und brutale Herrschaft der Älteren über die Jüngeren. "Dedowschtschina" ist die uneingeschränkte Machtausübung über die nachrückenden Rekruten. Die Älteren, häufig die Offiziere, konfiszieren deren privaten Besitz, nehmen sich ihre Essensrationen, den Sold. Junge Wehrdienstleistende werden als regelrechte Arbeitssklaven missbraucht und sogar gegen Geld an fremde Firmen verliehen. Sie werden zu sinnlosen, erniedrigenden, demütigenden Tätigkeiten gezwungen. Sie werden gequält, geprügelt und vergewaltigt. Und es gibt keine offizielle Instanz, an die sich die Gepeinigten in ihrer Not wenden könnten.

Die Journalistin Anna Politikovskaja, die sich mit kritischen Berichten über die russische Tschetschenien-Politik und über die korrupten Verhältnisse beim Militär einen Namen gemacht hat, schreibt in einem Buch: "Die Armee Russlands - traditionell eine der tragenden Säulen des Staates - ist immer noch ein typisches Straflager hinter Stacheldraht für die jungen Bürger des Landes, die man ohne Recht auf Gegenwehr dorthin verfrachtete."

Widerstand der Soldatenmütter

An die Öffentlichkeit gebracht werden solche Fälle vom "Komitee der Soldatenmütter", einer in ganz Russland tätigen Nichtregierungsorganisation, 1989 gegründet und vielfach mit Preisen - zum Beispiel dem Alternativen Nobelpreis oder dem Aachener Friedenspreis - ausgezeichnet. Sie unterstützen Wehrpflichtige und ihre Familien im Kampf um ihre Rechte, sie organisieren Kampagnen, bringen Petitionen ins Parlament ein, treten ein für eine Militärreform in Russland und kümmern sich um Rehabilitationsmaßnahmen für betroffene Soldaten. Dem Kreml sind sie dabei freilich ein Dorn im Auge.

Rekrutenmisshandlung in russischer Armee Andrej Sytschow
Andrej Sytschow: Beine und Genitalien amputiertBild: AP

Zwei Beispiele aus jüngster Zeit: Am Neujahrstag im sibirischen Tscheljabinsk: Ein Vorgesetzter und mehrere Kameraden misshandeln den 19-jährigen Andrej Sytschow. Stundenlang muss er auf dem Boden hocken, wenn er sich bewegt, wird er geprügelt und, offenbar, auch vergewaltigt. Mit schweren Verletzungen kommt der junge Mann schließlich ins örtliche Krankenhaus. Dort müssen ihm beide Beine und die Genitalien amputiert werden.

Auf einem Stützpunkt im Fernen Osten erträgt der Rekrut Jewgenij Koblow die Schikanen durch Vorgesetzte nicht mehr und versteckt sich 23 Tage lang in einem eisigen Keller. Als er dort schließlich gefunden wird leidet er an schwersten Erfrierungen. Auch ihm werden beide Beine amputiert. Valentina Melnikowa vom "Komitee der Soldatenmütter" sagt, dass es in diesem Fall den Behörden nicht gelungen sei, die Geschichte mit dem Soldaten Sytschow zu verheimlichen. "Bekannte Politiker und Persönlichkeiten verurteilen das, was in der Armee passiert und wollen ihre Kinder nicht zum Militär schicken. Ich finde, das ist ganz normal. Denn nur Wahnsinnige können jetzt ihre Kinder in die Hände der Militärs geben."

276 Selbstmorde

Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums starben im vergangenen Jahr 16 Soldaten an den Folgen der "Dedowschtschina", 276 begingen nach Quälereien und Erniedrigungen durch Vorgesetzte Selbstmord - das sind dreimal so viele wie im Jahr zuvor. Tausende junger Männer fliehen aus ihren Einheiten, um den unerträglichen Misshandlungen zu entgehen. Sie sind für ihr Leben physisch und psychisch gezeichnet.

Rekrut in Russland
Junge Rekruten werden ausgerüstetBild: AP

Die russische Militärführung und die Politik übten sich bislang in einer Politik des Verschweigens und Beschönigens. Menschenrechtsorganisationen wie "Human Rights Watch" oder dem "Komitee der Soldatenmütter", die über Folterungen in der Armee berichtet hatten, wurde stets unterstellt, sie übertrieben die Vorfälle und schadeten dem Ansehen der Armee. Doch die jüngsten Ereignisse haben nun sogar die Duma aufgeschreckt.

Einzelne Abgeordnete sensibilisiert

Dort erging sich der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow allerdings in den üblichen Medienbeschimpfungen und sagte, man müsse prüfen, ob die Berichte über Misshandlungen in Einklang mit der Verfassung stünden. Einzelne Abgeordnete scheinen zumindest sensibilisiert. Man erkennt, dass das Thema nicht länger heruntergespielt werden darf. Die Bevölkerung ist ohnehin aufgeschreckt. In Jekaterinburg und in St. Petersburg kam es zu - allerdings kleinen - Demonstrationen.

In einer vor wenigen Tagen veröffentlichten Umfrage des angesehenen Levada-Zentrums Moskau wird die "Dedowschtschina" als die "Krankheit der Armee" bezeichnet. Das Institut hat 1600 Menschen in 46 Regionen der russischen Föderation befragt. Rund 70 Prozent gaben an, sie möchten derzeit nicht, dass Söhne, Brüder und Männer heutzutage zum Dienst in die russische Armee einrücken sollten. Die Gewalt der Älteren gegenüber den Rekruten wird als ein ganz wesentlicher Faktor für diese Haltung genannt.