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"Antisemitismus ist weltweites Problem"

Das Gespräch führte Marcio Pessô28. November 2005

Die Zahl judenfeindlicher Internetseiten in Brasilien steigt, es gab auch Übergriffe gegen Juden. Ist Antisemitismus in Brasilien auf dem Vormarsch? Antworten von Wolfgang Benz, Antisemitismusforscher aus Berlin.

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Wolfgang BenzBild: TU Pressestelle

DW-WORLD: Die Zahl brasilianischer Internet-Communities mit eindeutigem anti-semitischen Charakter steigt. Ist es neu für Sie, dass es in Brasilien antisemitische Übergriffe und Internetseiten mit antisemitischen Inhalten gibt?

Wolfgang Benz: Ja, aber das überrascht mich nicht. Antisemitismus ist ein weltweites Phänomen und macht vor keinem einzigen Land halt. Antisemitismus ist immer ein Ventil für gesellschaftliche Probleme. Oft sucht man sich die Juden als Schuldige für irgendetwas. Antisemitismus lässt sich politisch sehr leicht instrumentalisieren.

In Brasilien sind es vor allem Leute aus der Mittelschicht, die sich an solchen Internet-Communities beteiligen. Ist das für die nur ein Spiel oder sind sie schlecht informiert?

Beides. Wenn jemand anfängt, machen die anderen mit und weiter. Das Andere ist, dass die Leute, die über Juden sprechen, in der Regel keine Ahnung haben, worüber sie sprechen. Sie beziehen sich nicht "real existierende" Juden, sondern nur auf ein Feindbild, ein Konstrukt. Man muss keinen Juden kennen, um antisemitisch zu sein. Und auch die Mittelschicht in Brasilien hat sicherlich Ängste, Befürchtungen vor sozialem Abstieg oder vor irgendwelchen Problemen. Wenn man Angst hat, projiziert man das gern auf die Minderheit der Juden.

Einen besonders schweren Übergriff auf Juden gab es Anfang Mai, als im belebten Stadtzentrum von Porto Alegre (im äußersten Süden des Landes) drei junge Juden angegriffen und zum Teil durch Messerstiche verletzt wurden. Wie kann man eine solche Tat erklären?

Man kann das nicht erklären. Das ist keine individuelle Manifestation, sondern es wird da ein Feindbild getroffen. Man stellt sich die Juden als die Beherrscher der Welt vor, und dann trifft man einen oder zwei Juden und glaubt, sie hätten etwas mit diesem Phantom zu tun und greift sie an.

Das ist aber ausgerechnet in Porto Alegre passiert. Das ist die Stadt in Brasilien mit der zweithöchsten Konzentration von Juden in der Bevölkerung (die erste ist São Paulo)...

Nach aller Erkenntnis haben die Existenz von Juden und die Manifestationen von Antisemitismus nicht viel miteinander zu tun.

Auch in Curitiba gibt es solche Gruppen, die den Antisemitismus propagieren, oder auch gegen Homosexuelle und Schwarze hetzen. Halten Sie das für eine Gefahr?

Nicht besonders. Das können drei einzelne Gruppen sein, das kann eine politische Richtung sein, die insgesamt 50 oder 100 Personen umfasst. Das beweist noch nicht, dass der Rechtsextremismus und Antisemitismus in Brasilien auf breiter Front in Vormarsch ist.

Sie reden aber über die Gründung einer nationalsozialistischen Partei in Brasilien, diskutieren darüber im Internet. Wäre das in Brasilien möglich?

Ja, wahrscheinlich leichter als in Deutschland, wo das auf jeden Fall verboten ist. In Brasilien wird es kein Verbot geben, weil niemand auf die Idee kommt, dass eine nationalsozialistische Partei entstehen könnte. Und erst wenn sie entsteht, wird man sich damit beschäftigen.

Wie sieht es mit der Möglichkeit einer internationalen Gesetzgebung gegen Nationalsozialismus aus?

Das gibt es nicht und das wird es auch nicht geben. Ein Land wie die Vereinigten Staaten von Amerika, die sehr stolz sind auf ihre hohe politische Moral, verbieten es auch nicht, dass deutsche Nationalsozialisten von Amerika aus Propaganda nach Deutschland und in die ganze Welt machen. Die nationale Gesetzgebung reicht eigentlich überall aus. Gegen das Internet hilft kein Gesetz.

Glauben Sie, dass die Gruppen in Brasilien eine Verbindung zu anderen Gruppen in Europa haben?

Nein, das muss gar nicht sein. Das Internet stellt jede beliebige Verbindung her, gibt Anregungen, beflügelt die Phantasie. Ich glaube nicht, dass es eine Internationale der Nazis oder der Antisemiten gibt. Natürlich wäre das möglich. Man hat auch oft vermutet, dass es eine internationale Verbindung gibt. Diese Leute sind aber extrem nationalistisch, es gibt Sprachbarrieren, denn Rechtsradikale sprechen in der Regel nicht sehr gut sehr viele Fremdsprachen. Daher glaube ich nicht an eine internationale Verschwörung von Rechtsextremen und von Antisemiten.

Wolfgang Benz (geboren 1941) arbeitet als Professor an der Technischen Universität Berlin und ist Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Benz erhielt 1992 den Geschwister-Scholl-Preis.