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Die ukrainische Wirtschaft hat ein Jahr verschenkt

Christiane Hoffmann 20. November 2005

Mit ihren Protesten forderten die Ukrainer vor einem Jahr auch bessere wirtschaftliche Verhältnisse. Heute ist die Euphorie nicht nur bei ausländischen Investoren abgeflaut. Das will die Regierung ändern.

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Auch Bauarbeiter gingen in Kiew vor einem Jahr auf die StraßenBild: AP

Andrej arbeitet seit einem Jahr an den Maschinen beim deutschen Auto-Zulieferer Leoni im Osten der Ukraine, in Stryj - einem Ort eine Stunde von Lviw entfernt. Kabelsätze werden hier gefertigt - für Autos wie den Opel Zafira und Astra, aber auch Porsche. Viel Handarbeit, die in Westeuropa viel teurer ist. Die Arbeit sei okay, sagt Andrej - immerhin werde der Lohn regelmäßig gezahlt, auch wenn er sehr niedrig sei. Von 800 Griwna, das sind 120 Euro, im Monat könne man auch in der Ukraine nicht leben. Doch gerade diese niedrigen Lohnkosten machen das Land für ausländische Investoren attraktiv. In Ländern wie Polen oder Ungarn sind sie doppelt bis dreimal so hoch.

Gestrafte Investoren

Daher laufen bei Leoni die Maschinen auf Hochtouren. Auch wenn ein Jahr nach der "orangenen Revolution" - sie begann mit der umstrittenen Wahl am 20. November 2004 -, die ein Ende machen wollte mit übermäßiger Bürokratie und Schattenwirtschaft, die Euphorie der Ukrainer wie auch der ausländischen Unternehmen gedämpft wurde, sagt Werner Geillinger, Chef von Leoni Bordnetzsysteme in der Ukraine: "Aus unserer Sicht ist es recht frustrierend, was hier im Moment von statten geht. Die ukrainische Regierung hat sämtliche Sonderzollregime und zollfreie Zonen aufgekündigt, weil sie illegale Machenschaften der Oligarchen unterbinden wollte. Und damit hat sie die Investoren gestraft."

Die Autozulieferer nutzen die Ukraine als verlängerte Werkbank - führen alle Materialien ein, lassen sie durch die preiswerten Arbeitskräfte veredeln und führen alles komplett wieder aus, in die Autowerke Westeuropas. In der Vergangenheit wurden mit der ukrainischen Regierung Vereinbarungen getroffen, nach denen Zoll- und Mehrwertsteuerfreiheit garantiert wurden. Nach Aufkündigung dieser Regelung durch die neue Regierung fallen bei Leoni derzeit 300.000 Euro im Monat zusätzlich an Zollgebühren an.

Diskussion um Reprivatisierung

Auch die Abschaffung der Sonderwirtschaftszonen, die ein Hauptgrund für Korruption innerhalb der Ukraine waren, hat für Belastungen der Unternehmen gesorgt. Und die Diskussion um eine Reprivatisierung ehemaliger Staatsunternehmen habe zu großer Unsicherheit geführt, sagt Karin Rau, die Delegierte der Deutschen Wirtschaft in der Ukraine. Außerdem sei mit der Entlassung von 18.000 Beamten aus dem Staatsdienst sehr viel Wissen verloren gegangen, so Rau. So habe man es derzeit häufig mit Inkompetenz zu tun. Auch Leoni-Chef Geillinger wirft der neuen Regierung schlechtes Management vor, weil Entscheidungen entweder nicht getroffen werden oder sich die Regierung anfangs beratungsresistent zeigte.

Doch das ändere sich gerade, beurteilt Lars Handrich die Lage. Er ist von der deutschen Beratergruppe des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in der Ukraine. Das DIW berät die Regierung in wirtschaftlichen Fragen. Die Ukraine stehe insgesamt wirtschaftlich wesentlich besser da als noch vor einem Jahr. Ein Grund dafür sei die offene Atmosphäre, die jetzt in der Gesellschaft herrsche sowie die Visafreiheit für EU-Bürger, die zu intensiveren Kontakten nach Westeuropa führe:

Zu pessimistische Sicht?

"Es geht nicht bergab. Die Diskussion, die hier in der letzten Zeit geführt wird, erscheint aus meiner Sicht sehr pessimistisch. Wenn man oberflächlich auf die volkwirtschaftlichen Kenndaten schaut ist es sicher so, dass die Ukraine letztes Jahr um zwölf Prozent beim

Bruttoinlandsprodukt zugelegt hat. In diesem Jahr wird das Wachstum nur um zwei bis drei Prozent ausfallen. Es ist keine Rezession, es ist nur ein Absinken der Wachstumsraten", sagt Handrich.

Das erklärt er zum einen mit Einmal-Effekten im letzten Jahr unter Präsident Leonid Kutschma. So hat der Staat investiert, in den Bau von zwei Atomkraftwerken und einer Autobahn von Kiew nach Odessa. Auch die gestiegene Inflation im Land habe mit einer höheren Nachfrage aufgrund höherer Einkommen der Ukrainer zu tun, die von der Industrie nicht befriedigt wurde. Daher gab es Engpässe bei der Versorgung mit Fleisch und anderen Lebensmittel.

Korruption besteht weiterhin

Diese Entwicklung zeige aber auch, dass der Markt stärker liberalisiert werden und die Regierung verstärkt Reformen auf den Weg bringen muss - vor allem im Landwirtschaftssektor und im Gesundheitswesen, aber auch bei der inneren Struktur des Apparates. Denn auch die Korruption habe noch nicht abgenommen.

Ein wichtiges Ziel von Präsident Viktor Juschtschenko könnte die Ukraine aber demnächst wohl erreichen - die Zuerkennung des Statu's als Marktwirtschaft, wie die EU-Kommission Anfang November mitteilte. Und auch im Bereich der Automobil-Zulieferer scheint sich einiges zu bewegen. Gespräche mit der Regierung über die Zollfrage laufen und

sollen bis Ende Dezember abgeschlossen sein. Das macht Hoffnung, meint Werner Geillinger. Denn das Land sei hochattraktiv, habe aber ein Jahr verschenkt: "Sobald die ukrainische Regierung eine Lösung findet, werden viele herkommen und wir denken jetzt schon über eine Erweiterung dieser Fabrik nach. Mittelfristig planen wir, eine weitere Fabrik in der Ukraine aufzubauen."