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Kommentar: Multikultur geht alle an

Peter Philipp2. November 2005

Ein Jahr nach dem Mord an Theo van Gogh sind die Herausforderungen, die die multikulturelle Gesellschaft stellt, deutlicher denn je. Zusammenleben erfordert aktive Beteiligung aller, so Peter Philipp in seinem Kommentar.

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Freundschaftskette von Muslimen und NiederländernBild: AP

Der Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh löste eine Schockwelle aus, die nicht nur die Niederlande heimsuchte. Und viele meinten, es ganz genau zu wissen: Mit dem "agent procovateur" van Gogh sei auch der Mythos der multikulturellen Gesellschaft zu Tode gekommen. Ein Mythos, der besonders in den Niederlanden so lange und so erfolgreich gepflegt worden war und nach dem in Deutschland jene neidvoll schielten, die meinten, Ähnliches auch hier verwirklichen zu müssen.

Ein Jahr später sind solche Unkenrufe verstummt. Obwohl dies kein leichtes Jahr war. Unter anderem, weil auch die Briten mit den Londoner U-Bahn-Anschlägen erkennen mussten, dass Radikalität und Terrorismus nicht Phänomene sind, die man irgendwo an den Hindukusch oder an den Euphrat verbannen kann. Und auch, weil in Frankreich jetzt gerade neue Unruhen ausbrechen, nachdem junge Muslime angeblich von der Polizei in den Tod getrieben wurden.

Unsere Gesellschaften sind längst multikulturell

Das Jahr nach dem Mord von Amsterdam hat trotz solcher Ereignisse vielleicht sogar das Gegenteil von dem bewirkt, was man zunächst befürchtet hatte: nämlich eine Besinnung darauf, dass unsere Gesellschaften in Westeuropa längst multikulturell sind und dass man daran nichts mehr ändern kann. Schon gar nicht mit Worten. Und die Besinnung darauf, dass multikulturelles Zusammenleben und Integration von Zuwanderern nicht von alleine kommen, sondern die aktive, vor allem aber bereitwillige Zusammenarbeit aller Beteiligten erfordern.

So wird die Mehrheitsgesellschaft die Erscheinung so genannter Parallelgesellschaften nicht einfach ignorieren, wegreden oder auf dem Verfügungsweg beseitigen können. Erst wenn man sich gezielt um die Integration der Zuwanderer bemüht, kann solch gesellschaftlicher und kultureller Isolationismus verringert werden. Keine leichte Aufgabe, denn sie setzt Offenheit und Toleranz voraus. Gegenüber Andersfarbigen, Andersgläubigen und Anderssprachigen. Und die Aufgabe ist nicht erfüllt, wenn die erste Generation mehr schlecht als recht aufgenommen wurde. Die nächste und übernächste Generation bedarf ebenso großer Zuwendung. Der Mord an van Gogh und die Anschläge von London haben das mehr als deutlich gemacht.

Das Recht auf Eigenart ist unveräußerlich

Aber auch die Zuwanderer müssen ihren Teil beitragen: Wer auf Dauer in einem "fremden" Land leben will, der muss dieses "fremd" überwinden, indem er dieses Land besser kennen und verstehen lernt und sich in ihm zu integrieren versucht. Wobei "sich integrieren" nie heißen soll und heißen kann sich konturlos im Schmelztiegel der anderen auflösen. Das Recht auf kulturelle, auch religiöse Eigenart ist unveräußerlich und es muss per Gesetz geschützt sein, wobei auch hier freilich feststeht, dass der Anspruch auf solche Eigenart nicht über dem Gesetz stehen kann.

Solche Erkenntnisse sind nicht neu. Das Jahr seit dem Mord an Theo van Gogh hat sie aber vielen in Erinnerung gerufen. Und statt die multikulturelle Gesellschaft zu beerdigen, bemühen sie sich jetzt verstärkt darum, das längst Bekannte, aber allzu lange Verdrängte umzusetzen und zu verwirklichen.