Das überschätzte Wundermittel gegen Verbrechen
27. April 20051993 ereignete sich ein spektakulärer Fall. In der Liverpooler Shoppingmall zeichnet eine Kamera auf, wie der zehnjährige Jamie Bulger Hand in Hand mit seinen späteren Mördern davongeht. Das Videoband führte zur Ergreifung der Täter. Großbritanniens Regierung stellte danach zwei Millionen Pfund für Videoüberwachung bereit. Gab es 1991 gerade mal zehn Systeme, sind dort heute vier Millionen Kameras im öffentlichen Raum installiert. Mehr als in jedem anderen Land Europas.
Erst die Kamera, dann das Gesetz
In Wahlkämpfen steht der Kampf gegen die Kriminalität immer ganz oben auf der Agenda. Aber an welchen Stellen nutzen Überwachungssysteme etwas? Was können sie - und was nicht? Diesen Fragen sind 15 Soziologen, Politikwissenschaftler, Kriminologen und Ingenieure aus sechs europäischen Ländern beim Forschungsprojekt "urban eye" nachgegangen.
Sie haben zum Beispiel die Gesetzgebung in verschiedenen Ländern untersucht - um zu sehen, wie die Videoüberwachung die persönlichen Rechte der Bürger beeinflusst. In Großbritannien etwa ermöglichte die besondere Rechtstradition, schnell Fakten zu schaffen und ein Datenschutzgesetz erst im Nachhinein zu verabschieden.
Nicht nur sehen, sondern auch verhindern
In Deutschland verhält es sich anders. In Regensburg wollte die Polizei in der Innenstadt die Videoüberwachung dauerhaft installieren. Doch es wurde kaum die Frage gestellt, ob sie als Vorbeugemaßnahme überhaupt Sinn mache, erklärt Leon Hempel, Sozialwissenschaftler am Berliner Institut für Technik und Gesellschaft. Er hat bei "urban eye" mitgeforscht.
Durch die Regensburger Kameras sei die Kriminalität bloß um vier Prozent gesunken, aber auch nur an spezifischen Orten wie Parkplätzen. Hempel betont: "Es kommt nicht nur darauf an, dass ein Fall aufgezeichnet wird. Es kommt darauf an, wie schnell am Tatort ein Polizist eintrifft, um die Tat zu verhindern." Auch lassen sich nicht alle Delikte bekämpfen. Gegen Affekthandlungen oder Sexualstraftäter können Kameras kaum etwas ausrichten.
Klischees vor dem Bildschirm
Andererseits sind auch die, die hinter der Kamera sitzen, oft voreingenommen - und sehen nur das, was sie sehen wollen. Überwachungsforscher wie Leon Hempel schauten in Großbritannien dem Wachpersonal 600 Stunden lang über die Schulter. "Die haben daneben gesessen und sich Notizen gemacht, was beobachtet wurde und wer", berichtet Hempel. "Und sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es überwiegend schwarze Jugendliche sind, männlichen Geschlechts." Da habe sich ein Vorurteil gegenüber Verdächtigen niedergeschlagen.
Die Grenzen zwischen staatlicher und privater Überwachung verschwimmen. Selbst in Norwegen, wo allein ein staatliches Videosystem zur Drogenbekämpfung am Osloer Bahnhof existiert, ist mittlerweile jedes dritte Geschäft mit Kameras bestückt. Ähnlich ist es in Ungarn und Ländern Osteuropas, die den politischen Umbruch erlebten.
Im Zweifel wieder abschalten
Zwar droht kein totalitärer Überwachungsstaat. Dennoch, der Eingriff ins Private wird größer. Hempel plädiert dafür, "dass man Videoüberwachung in die Hände von öffentlichen Trägern, sprich der Polizei, gibt". In bestimmten Abständen müsse die Effektivität nachgewiesen - und falls die fehlt, auch mal die Kamera wieder abgeschafft - werden.
Im privaten Bereich fordert Hempel die Vergabe von Überwachungslizenzen, um einen Überblick zu behalten, wo überall Kameras hängen: "Das Problem für den einzelnen Bürger ist sicher nicht, dass er mal an einer Stelle überwacht, sondern dass er an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zwecken gefilmt wird", sagt der Soziologe. Und wohin die Bilder gingen, sei für den Bürger meistens völlig undurchsichtig.