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Das Erbe versauert

Michael Brückner3. August 2003

Diagnose: Säurefraß. Ein Großteil der weltweiten Bibliotheksbestände zerfällt von ganz alleine. Die Rettung ist aufwändig und teuer.

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Bild: Bayerische Staatsbibliothek

"Fasst man sie an, zerbröseln sie zu Staub." So ähnlich klangen die Berichte von der Öffnung altäyptischer Grabkammern, als vor den Augen entsetzter Archäologen ein Großteil der jahrtausende alten Grabbeigaben in sich zusammenfiel. Doch fast ebenso ergeht es zur Zeit verzweifelten Bibliothekaren auf der ganzen Welt, wenn sie die ihnen anvertrauten Bücher in die Hände nehmen.

Seit dem Beginn der industriellen Massenproduktion von Papier aus Zellulose, Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden besonders zum Bleichen säurebildende Stoffe wie Natriumbisulfit und Hydrosulfit verwendet. Im Laufe der Zeit zersetzen diese Stoffe das Papier von innen heraus. Erst vergilbt es, später wird es brüchig und zerbröselt schließlich beim Anfassen wie vertrockneter, alter Tabak. Ein Phänomen, dass mancher sogar von seinen eigenen alten Taschenbüchern her kennt. Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein, in den Ländern des ehemaligen Ostblocks bis 1990, wurde solches Papier verwendet. Mittlerweile wird säurefrei produziert.

Säurefraß
Säurefraß - Bayerische StaatsbibliothekBild: Bayerische Staatsbibliothek

Das in Büchern und Druckschriften überlieferte kulturelle Gedächtnis der Menschheit aus der Zeit von etwa 1830 bis 1990 ist gerade dabei "zu versauern", um demnächt zu Staub zu zerfallen. Alleine in Deutschlands wissenschaftlichen Bibliotheken sind davon rund 60 Millionen Bände betroffen. Zur Rettung bleiben "nur noch 20 Jahre", dann sei es zu spät, sagt der Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek in München, Dr. Hermann Leskien im Gespräch mit DW-WORLD.

Als erste haben dieses gewaltige Problem die US-Amerikaner bemerkt, denn aus klimatischen Gründen wurde dort der Zerfall in den südlichen Bundestaaten bereits in den 1960er Jahren auffällig. Stiftungen wurden mobilisiert um durch Mikroverfilmung, wenn schon nicht die Bücher als solche, so doch deren Inhalt, die in ihnen gespeicherten Informationen, für die Nachwelt zu retten.

Mittlerweile gibt es ausgereifte chemische "Entsäuerungsverfahren", mit denen man die Lebensdauer des Papiers erheblich verlängern kann. Dabei werden die Bücher entweder in eine Lauge eingelegt oder mit trockenen Chemikalien unter Hochdruck "durchgepustet".

Säurefraß
Säurefraß - Bayerische StaatsbibliothekBild: Bayerische Staatsbibliothek

Das kostet viel Geld. Nach Angaben der Staatsbibliothek zu Berlin durchschnittlich zehn Euro pro Band oder 30 Eruo pro Kilogramm. Die Mikroverfilmung ist sogar noch teurer: "Grob gesprochen müssen Sie da mit den fünf- bis sechsfachen Kosten rechnen", so Hermann Leskien. Dafür wäre ein Mikrofilm aber auch bis zu 1000 Jahre lang halt- und benutzbar. Da kommen schnell Summen zusammen, die keine Bibliothek alleine tragen kann.

Alles wird nicht zu retten sein. Da die Zeit drängt und das Geld knapp ist, werden nun pragmatische Lösungen gesucht. Kann man sich die Verfilmung nicht leisten, so soll wenigstens entsäuert werden. Da auch das nicht flächendeckend zu bezahlen ist, wird derzeit eine Strategie entwickelt, nach der - vereinfacht gesprochen - wenigstens jedes Werk einmal in Deutschland erhalten bleibt.

Denn verglichen mit Frankreich, England oder den USA ist es bei der seit jeher dezentralen und föderalen Struktur Deutschlands hierzulande ziemlich schwer zu einer effektiven Sicherungs-Strategie zu gelangen. Die jahrhunderte alte "Bibliothèque Nationale" in Paris, die British Library in London oder die gigantische "Library of Congress" in Washington DC "sind gewisssermassen Nationalarchive. Vereinfacht gesagt heißt das: Wenn man die rettet ist alles gerettet", so Dr. Hermann Leskien von der Bayerischen Staatsbibliothek. In Deutschland ist alles unterschiedlich verteilt, eine allumfassende nationale Zentralbibliothek gab es nie.

Säurefraß
Säurefraß - Bayerische StaatsbibliothekBild: Bayerische Staatsbibliothek

Unter der Federführung der Bayerischen Staatsbibliothek hat sich daher eine "Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes" gebildet. Diese wird nun mit finanzieller Unterstützung der VolkswagenStiftung "eine nationale operative Stategie zur Bestandserhaltung des bedrohten schriftlichen Kulturguts" erarbeiten, damit zumindest das Wichtigste und das häufig nachgefragte weiter für die Öffentlichkeit benutzbar bleibt.

Nicht zuletzt will und muss man auch privates, bürgerschaftliches Engagement für das gewaltige Problem gewinnen. Die Bayerische Staatsbibliothek bietet zum Beispiel schon lange sogenannte Buchpatenschaften an. Wer über 100 Euro spendet, wird in dem von ihm "geretteten" Werk mit einem Exlibris dauerhaft gewürdigt. In der Staatsbibliothek zu Berlin geht man derzeit mit einer Ausstellung über die eigene Bestandspflege und deren Methoden und Techniken an die Öffentlichkeit.