1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

In Serbien-Montenegro wird die Depression zur Volkskrankheit

11. August 2005

Ein großer Teil der Bevölkerung in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien leidet unter Depressionen und dem posttraumatischen Stresssyndrom – auch in Serbien. Betroffen sind nicht nur Flüchtlinge.

https://p.dw.com/p/72H1
Die Menschen quälen Angst und HilflosigkeitBild: Bilderbox

Parallel zu den 10-jährigen Jahrestagen dramatischer Ereignisse der jüngsten Geschichte dieser Region – wie der Jahrestag des Srebrenica-Massakers sowie den Militäraktionen "Sturm" und "Blitz" der kroatischen Streitkräfte - sind alarmierende Daten veröffentlicht worden. Aus einer kürzlich veröffentlichten Studie geht hervor, dass ein großer Teil der Bevölkerung in Serbien und Montenegro unter Depressionen und dem posttraumatischen Stresssyndrom leidet. Negativ beeinflusst würden diese Krankheiten auch durch die Tatsache, dass gegen einige mutmaßliche Kriegsverbrecher noch keine Gerichtsurteile verhängt wurden.

Flüchtlinge stark betroffen

So lautet die Schlussfolgerung einer internationalen Studie, die unter der Schirmherrschaft des Londoner Royal College of Psychiatrists von sieben Psychiatern und Psychologen aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien erstellt wurde. Die Studie beruht auf Gesprächen der vergangenen fünf Jahre mit fast 1.500 Personen. Dabei sollten Faktoren erforscht werden, die zu chronischer Depression bei Probanden beitragen, die Angehörige oder ihr Heim während der kriegerischen Konflikte in den neunziger Jahren verloren oder auf eine andere Art traumatisiert wurden.

In Belgrad arbeiteten Ärzte vom Institut für neuropsychiatrische Krankheiten Dr. Laza Lazarevic an dieser Studie. Sie bestätigten, was zu befürchten war: Depressionen und das posttraumatische Stresssyndrom stellen auch heute noch ein akutes Problem dar. Insbesondere litten darunter rund 100.000 Flüchtlinge in Serbien, von denen etwa 16.000 noch in Flüchtlingslagern, den so genannten kollektiven Zentren, lebten. Denn die meisten dieser Menschen seien heute psychisch krank, meinen Ärzte, die sich mit den Problemen der Flüchtlinge befasst haben.

Frauen Opfer von Aggression

In der Studie heißt es, sogar 79 Prozent der Überlebenden und noch aus den Kriegen Traumatisierten glauben, dass Recht und Gerechtigkeit nicht umgesetzt worden seien. Dies verursache bei ihnen Verbitterung und kompliziere ihre Chancen auf Genesung. In der Studie wird ferner angeführt, dass die Befragten "Wut zeigen, keinen Sinn im Leben sehen, demoralisiert sind, auf Rache sinnen, hilflos und pessimistisch sind sowie Angst haben, nicht zuletzt davor, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren". Laut Nachforschungen der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR sind etwa 80 Prozent der Flüchtlinge in Serbien Frauen und Kinder. Mindestens ein Viertel dieser Frauen ist auch weiterhin täglich häuslicher Gewalt ausgesetzt: Sie erfahren Gewalt durch ein Familienmitglied, dass an Kriegsschauplätzen war, nun am posttraumatischen Syndrom leitet und daher eigene Aggressionen an seinen Nächsten auslässt.

Depression als Volkskrankheit

Tatsache ist jedoch, dass unter verschiedenen Formen der Depression sowie des posttraumatischen Syndroms nicht nur Flüchtlinge leiden. Diese psychiatrischen Krankheiten gehören zu den häufigsten Erkrankungen der gesamten Bevölkerung in diesem Land. So hat das serbische Gesundheitsministerium dieser Tage eine Publikation unter der Bezeichnung "Praxisführer für Ärzte über die häufigsten Krankheiten in Serbien" vorgestellt. Darin heißt es, aufgrund verfügbarer offizieller Daten gehörten Herz- und Gefäßkrankheiten, Diabetes, Depressionen sowie Hirnschlag zu den häufigsten Krankheiten, an denen die Bevölkerung in Serbien leide.

Allem Anschein nach stellt Serbien keine Ausnahme unter den Ländern der Region dar. In Kroatien wurde beispielsweise kürzlich offiziell veröffentlicht, dass seit Anfang der neunziger Jahre bis heute mehr als 1.300 Veteranen des vergangenen Krieges Selbstmord begangen hätten. Ferner seien bei den meisten Veteranen posttraumatische Stressstörungen diagnostiziert worden, besser bekannt unter der populären Bezeichnung Vietnam-Syndrom.

Stevan Niksic, Belgrad
DW-RADIO/Serbisch, 6.8.2005, Fokus Ost-Südost