Kunstprojekt mit Oma, Topfschlagen und Kirschlutscher
26. Juli 2005Eine ganz normale Fußgängerzone mitten in Westdeutschland: In Iserlohn hat an diesem Mittag kaum jemand Zeit. Trotzdem verlangsamen einige mit Einkaufstüten Bepackte kurz ihren Schritt. Ein kleines Klapptischgestell aus hellem Birkenholz steht mitten in der gepflasterten Bummelzone. Joanne Moar, Künstlerin aus Köln, hat ihr mobiles Info-Modul dort aufgebaut. Selbst entworfen und zusammenklappbar wie ein Reisetrolley. Ein Laptop liegt auf dem Tischchen, davor zwei kleine Klapphocker, vor der Sonne durch einen knallroten Regenschirm geschützt. Sie spricht die Vorbeieilenden an, fragt, ob sie ihr ein paar persönliche Fragen beantworten würden. Für ein Kunstprojekt, mit dem sie gerade an der Kunsthochschule ihr Studium abschließt.
"Das Projekt stammt von mir als Neuseeländerin in Deutschland; ich bin seit zehn Jahren hier", erzählt Moar. "Ich möchte erfahren, wie meine Freunde hier aufgewachsen sind - was ist eine typisch deutsche Kindheit, was ist Kindheit, was ist damit verbunden?"
Kindergeburtstag wird Kunstbaustein
Joanne Moar hat speziell dafür eine Online-Datenbank entwickelt. Um die Fragen zu systematisieren und die Antworten auswerten zu können. Konzeptkunst - abrufbar im Netz. Gesammelt werden die Kunstbausteine allerdings im persönlichen Gespräch.
Man kann Kindheits-Erinnerungen aber nicht nur spenden, sondern auch empfangen – die eigene, typisch deutsche Wunsch-Kindheit sozusagen. "Man muss persönliche Daten eingeben, das sind nicht so viele", sagt Moar. "Was für ein Jahrgang man ist, das ist wichtig. Wo man aufgewachsen ist, was für eine Familienstruktur, ob Geschwister oder keine Geschwister. Ob man ein eigenes Zimmer hatte. Und anhand dieser Daten werden Daten aus der Datenbank rausgesucht."
Wer ist denn Winnetou?
In Iserlohn ist das Projekt ausnahmsweise auch in der Städtischen Galerie zu sehen: Laptops, aufgeklappt und brav aufgereiht auf alten Schultischen. "Becoming German" als erzählte Kindheitsgeschichte. "Es ist sehr oft vorgekommen, dass ich mit Freunden zusammengesessen habe und die haben plötzlich ein Lied gesummt, wovon ich gar keine Ahnung habe", sagt die Künstlerin. "Oder von Winnetou gesprochen. Ich habe nie Winnetou gesehen, ich kann damit gar nichts anfangen. Das sind die Sachen, die für selbstverständlich genommen werden und die nicht selbstverständlich sind."
An der Wand der Galerie eine Deutschlandkarte mit Kirschlutschern als Fähnchen. Eingesteckt an den Orten, die die Künstlerin noch besuchen will. Köln, Gütersloh und Berlin sind die nächsten Städte. Und bisher hat sie auskunftsfreudige Menschen getroffen, sagt Moar: "Es geht teilweise um Lieblingsbücher und Lieblingslieder. Also man fängt so langsam an. Und es ist erstaunlich, was für intime Details dann rauskommen."
Migranten mit deutscher Kindheit
Joanne Moar sammelt diese Geschichten wie andere Schnappschüsse mit der Fotokamera. Und stellt sie zu einer Art virtuellem Fotoalbum zusammen. Ihr Stück Deutschland, das sie als Kind nicht erlebt hat. "Ich weiß nicht, ob es eine typisch deutsche Kindheit gibt", sagt sie. "Ich suche möglichst viele unterschiedliche Erinnerungen. Dass es authentisch ist, das ist mir wichtig."
Für die junge Künstlerin macht es keinen Unterschied, ob jemand Migrant oder Einheimischer ist. Zwei Menschen türkischer Abstammung hätten ihr erzählt, sie hätten keine deutsche Kindheit gehabt. "Darauf ich: 'Ihr seid doch in Deutschland aufgewachsen'. Die Antwort: 'Ja ja, aber mit sehr viel türkischem Einfluss'. Dann habe ich gesagt: 'Das ist doch auch eine deutsche Kindheit.' Joanne Moar nimmt alle Kindheitserfahrungen in ihre Datenbank auf. Und als Dank gibt es ein Stück Kindheit aus Deutschland: einen roten Kirschlutscher."