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Baltische Mini-Tiger lehren EU das Fürchten

Steffen Leidel19. Mai 2005

Ein Jahr nach dem EU-Beitritt ziehen Estland, Lettland und Litauen auf dem baltischen Wirtschaftsforum in Riga Bilanz. Die lässt alte EU-Staaten neidisch werden. Schon ist die Rede von neuen Tiger-Staaten.

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Gute Geschäfte mit Holz in den baltischen StaatenBild: dpa ZB - Fotoreport

Die baltischen Staaten gedeihen nicht erst seit dem EU-Beitritt prächtig. Ihre Erfolgsgeschichte beginnt bereits im Jahr ihrer Unabhängigkeit 1991. Seitdem ging es bergauf, ein Ende des Booms ist nicht in Sicht. Die Wirtschaft wuchs allein in Lettland im vergangenen Jahr 2004 um 8,5 Prozent, in Litauen um 8,6 und Estland 6,2 Prozent.

Beeindruckende Zahlen, doch kann man deshalb gleich von so genannten Tigerstaaten sprechen, wie sie in den 1990er-Jahren im asiatischen Raum entstanden? Ja, sagt Claus-Friedrich Laaser, Baltikum-Experte vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. Die baltischen Staaten haben seit ihrer Unabhängigkeit einen "rigorosen Transformationsprozess zur Marktwirtschaft" hingelegt. "In dieser Zeit haben sie es geschafft, sich in die Weltwirtschaft zu integrieren", sagt Laaser. Ihre Ausrichtung zum Westen ist offensichtlich. Mehr als 60 Prozent der Exporte Estlands und Lettlands und mehr als 50 Prozent der Ausfuhren Lettlands gehen inzwischen in die EU.

Dagegen sind die Handelsanteile mit Russland, dem großen Bruder und ehemaligen Besatzer, drastisch eingebrochen. Das bedeute jedoch nicht, dass man Russland als Partner abgeschrieben hat. "Man will zwischen der EU und Russland eine Brückenfunktion einnehmen." Die Häfen der baltischen Staaten an der Ostsee sind nach wie vor die wichtigsten Außenhandelshäfen der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS). "Sie sind eine Art Gateway zu den russischen Märkten".

Der Hafen von Klaipeda Litauen
Der Hafen von Klaipeda in LitauenBild: Transit Archiv

Klein, deshalb stark

Im Gegensatz zu vielen alten EU-Staaten ist die Stimmung in den baltischen Ländern gut. Es wird konsumiert, überall gebaut und investiert. Besonders der Außenhandel floriert. Estland richtete sich dabei am drastischsten nach Westen aus, suchte den Kontakt mit den unmittelbaren Nachbarn Finnland und Schweden. Lettland und Litauen richten ihren Blick vor allem auf Großbritannien und Deutschland, wie auch auf dem baltischen Wirtschaftsforum in Riga (19./20.5.) deutlich wird. In Lettland haben hunderte deutsche Unternehmen investiert. Der Standort Baltikum ist äußert attraktiv. Er bietet niedrige Arbeitskosten und Sozialabgaben, geringes Steueraufkommen - und vor allem hochqualifiziertes und motiviertes Personal.

Eine Stärke der Länder liegt nach Ansicht von Laaser auch in ihrer geringen Größe. In Estland wohnen nur 1,4 Millionen, in Lettland 2,3 und Litauen 3,5 Millionen Menschen. "Das sind Größenordnungen von westeuropäischen Metropolen." Die Länder sind damit aber überschaubar, wendig und flexibel.

Gutes Geschäft mit Holz

Auch wenn sich die Balten als modern und innovativ präsentieren, einen Großteil ihrer wirtschaftlichen Kraft schöpfen sie noch immer aus traditionellen Branchen. "Die Länder sortieren sich dabei wieder da ein, wo sie in der Zeit zwischen den beiden Weltkrieg standen", sagt Laaser.

In allen baltischen Ländern spielt der Export von Holzartikeln und Möbeln eine große Rolle. In Lettland ist fast die Hälfte der Exporte diesem Bereich zuzuordnen. Stark ist auch die Textilindustrie. In Litauen ist die mineralölverarbeitende Industrie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. In Estland liegt der Schwerpunkt vor allem auf dem Maschinenbau und der Produktion von elektronischen Teilen, wie zum Beispiel Handys.

Werden die kleinen Tigerstaaten den alten EU-Staaten das Fürchten lernen? Große "Verlagerungsprozesse" werde es allein schon aufgrund der mangelnden Größe der Länder nicht geben, sagt Laaser. "Der Aufholprozess und die guten Investitionsbedingungen werden aber sicher dazu führen, dass man dort zusätzliche Produktionsstätten ansiedelt."

Schattenseiten bleiben

Doch bei aller guten Entwicklung der kleinen Tiger - vor Euphorie sei gewarnt. Die Wirtschaft zeigt zum Teil Überhitzungssignale wie Inflation und starkes Kreditwachstum. Und die liberalen Maßnahmen haben auch ihre Schattenseiten. Nach wie vor gehören die baltischen Staaten zu den ärmsten EU-Länder und werden es in den nächsten Jahren auch bleiben. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist nur halb so hoch wie der EU-Durchschnitt. Der Unterschied zwischen arm und reich ist groß. Auch Korruption ist vielerorts verbreitet.

Der Hauptgeschäftsführer der deutsch-baltischen Handelskammer, Ralph-Georg Tischer, plädiert jedoch dafür, dieses Problem nicht überzubewerten. "In den baltischen Staaten wird der Rechtsstaat von Jahr zu Jahr bedeutender." (Siehe Interview unten)