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Nahrung für Alle

16. Oktober 2011

Die Zukunft der Welternährung liegt nicht in der industriellen Landwirtschaft, so steht es im 2008 veröffentlichten Weltagrarbericht. Experten fordern schon lange eine Wende in der Agrar- und Entwicklungspolitik.

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Genmanipulierte Tomate (Foto: picture-alliance / Bildagentur Huber)
Absage an Gentechnik - Der Weltagrarbericht 2008Bild: picture-alliance / Bildagentur Huber

Der Gedanke "Mehr Input = mehr Output" hat in der Landwirtschaft ausgedient. Immer mehr Dünger ergibt nicht endlos größere Ernten. Immer mehr Kunstdünger und immer intensivere Nutztierhaltung verursachen dagegen immer mehr Umweltprobleme wie Klimawandel, verseuchte Böden und Wasserknappheit. Zur Ernährungssicherheit der weiter wachsenden Weltbevölkerung trägt diese Landwirtschaft auch nicht bei: Immer noch hungern Menschen, weltweit eine Milliarde.

Industrie-Proteste

Der Weltagrarbericht (IAASTD, International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development) von 2008 war eine Sensation. Das Fazit des Berichts, der von der Weltbank angestoßen und unter Mitwirkung auch der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Welternährungsorganisation FAO erarbeitet wurde, war eine Niederlage für die industrielle Landwirtschaft: Der Bericht forderte eine klare Förderung der ökologischen Landwirtschaft und der Kleinbauern und lehnte die sogenannte Grüne Gentechnik, die Agrarchemie und die Patentierung von Saatgut vehement ab.

Sojabohnenernte in Argentinien (Foto: AP)
Sojabohnenernte in Argentinien - Tierfutter für Europa und USABild: AP

Manche Mitglieder des Weltagrarrates, wie die Chemie- und Saatgutunternehmen Monsanto, Syngenta und BASF, verließen aus Protest die Arbeitsgruppen. Einige Länder distanzierten sich von den Schlussfolgerungen des Berichts: Er sei, wie es hieß, "stark ideologisch beeinflusst". Doch heute, drei Jahre nach seiner Veröffentlichung, haben sich viele Erkenntnisse auch in der Politik durchgesetzt, betont Tobias Reichert, Referent für Welthandel und Ernährung der zivilgesellschaftlichen Organisation Germanwatch.

EU-Wende in Sicht

Tobias Reichert hat an der deutschen Ausgabe des Berichts der unabhängigen Think Tank Worldwatch zur Lage der Welt 2011 mitgearbeitet. Der deutsche Titel: Hunger im Überfluss. Reichert hat das Kapitel über die europäische Agrarpolitik mitgeschrieben und sieht in den Überlegungen der Europäischen Kommission viele Ansätze zu einer nachhaltigen und ökologischeren Agrarpolitik. 2013 soll die europäische Agrarpolitik reformiert und die Grundlagen der Agrarsubventionen neu definiert werden.

Für Reichert wäre das die Einleitung einer Kehrtwende. Er sieht die immensen Agrarsubventionen der Europäischen Union nicht nur als mitverantwortlich für Umweltzerstörungen in Europa durch die industrielle Landwirtschaft. Weltweit werde für die Massentierhaltung und für die Agrarkraftstoffe produziert statt für Ernährung. Das sei auch nicht für die Europäer gesund, betont der Agrarexperte.

Tausende Puten halten sich in einem Stall auf (Foto: picture-alliance)
Die Menge drückt den Preis - doch Massentierhaltung geht auch auf die Gesundheit der VerbraucherBild: picture-alliance/Carmen Jaspersen

"Die industrielle Agrarwirtschaft in Europa hat aus zwei Gründen negativen Einfluss auf die Welternährung. Die Industrialisierung gerade der Tierproduktion in der EU hat dazu geführt, dass in der EU sehr viel mehr tierische Produkte produziert werden als gesund ist für die Ernährung der Europäer selbst." Außerdem, so Reichert, würden immense Überschüsse produziert, die anschließend die Märkte in den Entwicklungsländern überfluteten.

Subventionierter Hunger

Tatsächlich verursacht der beträchtliche Konsum an subventionierten Fleisch- und Milchprodukten immense Kosten im Gesundheitssystem. Europäer und US-Amerikaner kämpfen mittlerweile mit Übergewicht. Es gibt heute auf der Erde nicht nur eine Milliarde Menschen, die hungern, sondern über eine Milliarde Menschen, die übergewichtig sind. Doch auch wenn der Konsum in den Industrieländern bereits die Grenzen der Volksgesundheit überschritten hat, wird die Produktion weiter subventioniert.

Also werden die Überschussprodukte weltweit exportiert – in andere Industrieländer, in Schwellenländer oder eben auch in Entwicklungsländer. Die Landwirte dort können mit den subventionierten Preisen der EU-Bauern nicht konkurrieren.

Bauern-Protest in Kiew (Foto: dpa)
Die subventionierten Exporte der Industrieländer machen die lokale Landwirtschaft kaputtBild: picture-alliance/dpa

Ergebnis: Die subventionierten Agrarexporte der Industrieländer wie der EU und der USA, machen die lokale Landwirtschaft kaputt, egal ob in Russland, Asien oder Afrika. Das verursacht Hunger dort, wo die Armut am größten ist und dort wo die Lebensmittel eigentlich produziert werden: auf dem Land.

Hunger nach Kraftstoff

Gleichzeitig zerstört der Hunger nach Tierfutter für die industrielle Fleisch- und Milchproduktion und nach sogenannten Agrarkraftstoffen weltweit die Umwelt. Wälder werden gerodet um Platz für Futter- oder Ethanolpflanzen zu schaffen. Damit, so Todzro Mensah von der Organisation "Amis de la Terre" in Togo, gehe wertvoller Boden für die Nahrung der Menschen kaputt. Er nennt ein Beispiel aus Togo: Dort will eine britische Firma 40 Millionen Hektar Land pachten, um Jatropha für Agrarkraftstoff für den Export anzubauen.

"Unser Grundproblem ist die Armut. Alles fängt mit der Armutsbekämpfung an", sagt der togolesische Umweltaktivist. Doch wenn auf wertvollen Böden Pflanzen für Biosprit angebaut werden, statt für Nahrungsmittel, bleibe die Armutsbekämpfung ein unerreichbares Ziel, betont Todzro Mensah.

Neue Verteilung

Viele Experten fordern deshalb seit Jahren eine Wende in der Agrar- und Entwicklungspolitik. Jahrzehntelang spielte die ländliche Entwicklung in der internationalen Entwicklungspolitik kaum eine Rolle.

Stattdessen sollte vor allem die Industrie angekurbelt werden. Lebensmittel waren auf dem Weltmarkt ja ohnehin billiger zu kaufen, als sie lokal zu produzieren. Ergebnis: Armut und Hunger sind vor allem ländlich. Die Flucht in die Städte nimmt weltweit zu.

Familie aus Nord-Uganda vor ihrem Haus (Foto: DW)
Armut ist ländlich - wie hier in Nord-Uganda. Experten wollen die lokale Produktion und Entwicklung fördernBild: Helle Jeppesen / DW

Langsam setzt ein Umdenken ein: So haben viele afrikanische Länder versprochen, zehn Prozent ihres Haushalts in die ländliche Entwicklung zu investieren. Auch die Geberländer nehmen mittlerweile wieder Projekte zur Förderung der ländlichen Entwicklung in ihren Entwicklungs-Portfolios auf.

Systemwechsel

Doch nicht die Geldsumme ist entscheidend, sondern wie es verwendet wird, betont Hans Herren, Präsident des Millennium Instituts und Vize-Präsident des Weltagrarberichts 2008. Der Agrarexperte hat selbst jahrzehntelang in Entwicklungsländern gearbeitet. Er empfiehlt, die Lebensmittel so weit wie möglich dort zu produzieren, wo sie auch gebraucht werden.

Er weiß jedoch, dass diese Landwirtschaft der Zukunft vor allem eine politische Herausforderung sein wird. Sie würde ein ganz anderes System erfordern, so Herren: "Wir brauchen dann nicht mehr diese großen Saatgutkonzerne, die alles kontrollieren wollen – und ebenso wenig die Dünger-Konzerne, die den Markt beherrschen wollen. Dafür würden die Farmer im Mittelpunkt stehen, in einem System, das erneuerbare Ressourcen produziert, das nachhaltig ist und das die Bedürfnisse der zukünftigen Menschen befriedigen würde."

Damit, so Hans Herren, ließe sich auch eine wachsende Weltbevölkerung besser und gesünder ernähren als heute – und zwar mit der Natur statt gegen sie.

Autorin: Helle Jeppesen
Redaktion: Matthias von Hein