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Protestwelle in Israel

4. September 2011

Klagen über eine ungerechte Sozialpolitik treiben immer mehr Israelis zum Protest gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu. Konkrete Forderungen werden aber kaum gestellt, sie könnten die Protestbewegung spalten.

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Wie auch in andern israelischen Städten demonstrierten Tausende in Jerusalem gegen die Sozialpolitik der Regierung von Benjamin Netanjahu. (Foto:dapd)
In Jerusalem demonstrierten Tausende gegen eine verfehlte SozialpolitikBild: dapd

Was vor ein paar Wochen mit einigen Zelten in der Innenstadt von Tel Aviv begonnen hat, ist mittlerweile ein landesweiter Protest gegen die Politik von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geworden. Am Samstagabend (03.09.2011) demonstrierten rund 450.000 Menschen in Tel Aviv und anderen israelischen Städten. Sie forderten grundlegende Veränderungen auf nahezu allen Feldern der Politik. Die Regierung hat zwar die Einsetzung einer Kommission versprochen, die sich mit den Missständen beschäftigen soll. Eine grundlegende Änderung der Politik wird es allerdings nicht geben.

Gerechtigkeitslücke

Portait des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. (Foto:AP)
Gerät zunehmend unter innenpolitischen Druck: Israels Ministerpräsident NetanjahuBild: AP

In den vergangenen 20 Jahren, so einer der wichtigsten Protestpunkte, seien in Israel kaum bezahlbare Wohnungen gebaut worden. Das Ergebnis dieser verfehlten Politik seien zu hohe Mieten, die im Juli Ursache der ersten Proteste in Tel Aviv waren. Inzwischen hat sich die Klage über hohe Mieten zu einem Protest gegen eine insgesamt verfehlte Sozialpolitik ausgeweitet. Es wurden Forderungen nach niedrigeren Steuern, einer anderen Bildungspolitik und Veränderungen im Gesundheitssystem laut.

Lauter werden auch die Klagen über Preistreibereien in Supermarktketten, die sich in den Händen einiger Monopolisten befinden. Deren Machtposition treibt die Preise in die Höhe. So wird von Preisaufschlägen bei Importkäse von bis zu 600 Prozent berichtet. Der Protest gegen die Macht der Wirtschaftsmagnaten wird unterstützt von Wirtschaftsexperten wie Prof. Michael Beenstock von der Hebrew-University: "Den Wettbewerb zu verbessern, wäre eine sehr gute Sache."

Hohe Militärausgaben

Die Sicherheitspolitische Lage im Nahen Osten erfordert jedoch aus der Sicht der israelischen Regierung hohe Rüstungsausgaben. Derzeit gibt Israel sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts für den Verteidigungshaushalt aus. Allein das neue Raketenabwehrsystem "Iron Dome" schlägt mit etwa einer Milliarde Dollar (700 Millionen Euro) zu Buche. Die Bundesrepublik wendet für den Verteidigungsetat rund 1,5 Prozent auf, die USA liegen mit vier Prozent ebenfalls hinter Israel.

Totale Ansicht des Versammlungsplatzes im Zentrum von Tel Aviv. Es sollen etwa 300.000 Teilnehmer gewesen sein.(Foto:dapd)
Die größte Demonstration fand am Samstagabend (03.09.2011) in Tel Aviv statt: Rund 300.000 Teilnehmer zählten die VeranstalterBild: dapd

Aber nicht nur wegen der hohen Militärausgaben, deren Berechtigung angesichts immer wieder aufflammender Kämpfe mit den Palästinensern von den Demonstranten nicht in Frage gestellt wird, sind Ministerpräsident Netanjahu die Hände gebunden. Umschichtungen im Haushalt kann er aus Rücksicht auf seine Koalitionspartner nicht vornehmen. So dürfte es schwer fallen, beispielsweise die staatlichen Zahlungen an das Schulsystem der Orthodoxen Juden oder die Unterstützung für die Siedlungen im Westjordanland zu kürzen, ohne den Bestand der Koalition zu gefährden. Neben der Arbeitspartei um Ehud Barak, der nationalistischen Partei Israel Beitenu von Außenminister Avigor Liebermann ist auch die orthodoxe Shas-Partei an der Regierung beteiligt. Haushaltsumschichtungen, die deren Klientel betreffen würden, könnte den Bestand des Regierungsbündnisses insgesamt gefährden.

Experten sollen es richten

So bleibt es bei einer Expertengruppe, die im Auftrag des Ministerpräsidenten die Forderungen der Demonstranten untersuchen und Lösungsvorschläge unterbreiten soll. Bisher hat das nicht überzeugt, dennoch wird für die kommenden Wochen nicht mehr mit Großdemonstrationen gerechnet. Die Protestbewegung werde „neue Formen annehmen, aber nicht verschwinden,“ sagte der Historiker Dani Gutwein von der Universität Haifa. Wie die dann aussehen werden, entscheidet sich auch an den Lösungsvorschlägen der Regierungskommission, die für Ende September angekündigt sind.

Autor: Matthias von Hellfeld (dpa, dapd, rtr, afp)

Redaktion: Annamaria Sigrist