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Russlanddeutsche warten noch immer auf vollständige Rehabilitierung

29. August 2011

Per Gesetz sind die Russlanddeutschen in Russland politisch rehabilitiert. Ihre vor 70 Jahren verlorene Autonomie haben sie nicht zurück bekommen. Das erschwert für sie vieles, meint der Historiker Viktor Krieger.

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Wolgadeutsche Bauern liefern ihre Produkte an der Sammelstelle ab, Szene aus dem Jahre 1925 (Foto: picture alliance)
Wolgadeutsche Bauern liefern ihre Produkte an der Sammelstelle ab, Szene aus dem Jahre 1925Bild: picture-alliance / akg-images

Seit der massenhaften Deportation der Russlanddeutschen ist ein ganzes Menschenleben vergangen. Vor 70 Jahren, am 28. August 1941, wurde vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR der Erlass „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Gebieten lebenden Deutschen“ herausgegeben. Den deutschstämmigen Sowjetbürgern unterstellte man damals die Bereitschaft zur Kollaboration mit Hitler-Deutschland. Innerhalb von wenigen Wochen wurde über eine Million Russlanddeutsche aus den europäischen Teilen der Sowjetunion umgesiedelt - überwiegend nach Sibirien und Kasachstan. Damit wurde auch die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen de facto liquidiert.

Über die heutigen Probleme der Russlanddeutschen in Russland und Deutschland sprach die Deutsche Welle mit Dr. Viktor Krieger, der selbst aus der ehemaligen Sowjetunion stammt und die Geschichte der Russlanddeutschen an der Universität Heidelberg lehrt.

DW-WORLD.DE: 1991 wurde in Russland das Gesetz zur Rehabilitierung der repressierten Völker verabschiedet. Heute, 20 Jahre danach, wird immer noch bemängelt, dass dieses Gesetz nicht alle Probleme der Russlanddeutschen in Russland löst. Wo liegt das Problem?

Der Historiker Viktor Krieger (Foto: DW)
Der Historiker Viktor KriegerBild: Victor Weitz, 2007

Viktor Krieger: Es geht darum, dass die Autonome Republik der Wolgadeutschen immer noch nicht wiederhergestellt ist. Bei einer ausbleibenden national-territorialen Autonomie kann man von der vollständigen Rehabilitierung der Russlanddeutschen nicht sprechen. In Russland sind sie über das ganze Land verteilt, und das macht die Pflege und Bewahrung ihrer nationalen Eigenart, Kultur, Sprache sehr schwierig. Ehrenamtliches Engagement reicht nicht aus, man braucht staatliche Förderung. Aber ohne diesen offiziellen Status "national-territoriale Autonomie" gibt es ja auch keine Unterstützung seitens der Behörden. Das heißt, es fehlt die Möglichkeit für Beschlussfassungen, es gibt keine Finanzierungsquellen für Programme, die die Pflege der deutschen Kultur unterstützen sollten. Im heutigen Russland gibt es kein einziges deutsches Theater, keine einzige Zeitschrift der Russlanddeutschen und auch kein staatliches Museum für Geschichte und Kultur. Es gibt bloß ein Paar Expositionen über einzelne Abschnitte in der Geschichte der Russlanddeutschen in den Museen von Omsk und Saratow. Solche Sachen sind für nationale Minderheiten, die über den Autonomie-Status verfügen, selbstverständlich. Für Russlanddeutsche bleiben sie weiterhin ein unerreichbarer Traum.

Laut der Volkszählung in Russland von 2002 haben 600 Tausend russische Bürger "Deutsch" as ihre Nationalität angegeben. Rein mathematisch, reicht das für die Schaffung einer national-territorialen Autonomie?

2002 war die erste Volkszählung in Russland, als man die nationale Zugehörigkeit freiwillig angeben durfte. Das haben 600 Tausend ethnische Deutsche auch gemacht. Ich nenne eine andere Zahl zum Vergleich: 400 Tausend Russlanddeutsche haben in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen vor ihrer Auflösung 1938 gelebt. Und heutzutage leben in den russischen autonomen Republiken Kalmykien oder Tschuwaschien viel weniger Kalmyken und Tschuwaschen, als es Russlanddeutsche im ganzen Land gibt. Die Russlanddeutschen bleiben bis jetzt das einzige nicht endgültig rehabilitierte Volk. Wenn Russland einen Rechtsstaat aufbauen will, dann ist eine solche Situation nicht zulässig. Die Russlanddeutschen können sich damit nicht zufrieden geben. Jüngste Umfragen haben gezeigt, dass die Mehrheit der in Russland lebenden Russlanddeutschen die Idee einer Autonomie-Wiederherstellung unterstützt. Nur so können sie ihr nationales Erbe, ihre Sprache und Kultur aufrechterhalten.

Was können Sie über die Situation der Russlanddeutschen, die nach Deutschland eingewandert sind, sagen?

Wolgadeutsche an der Uferstraße von Saratow, um 1900 (Foto: picture alliance)
Wolgadeutsche an der Uferstraße von Saratow, um 1900Bild: picture-alliance / akg-images

Sie bekommen soziale Unterstützung vom Staat. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine privilegierten nationalen Gruppen. In diesem Sinne haben die Russlanddeutschen die gleichen Bedingungen wie die Vertreter anderer Nationalitäten. Natürlich gibt es aber auch Schwierigkeiten. Das betrifft die Integration der ersten Migrantengeneration in die deutsche Gesellschaft - oft wegen der Sprache. Mangelnde Deutschkenntnisse hindern viele daran, ihren Wunschjob auszuüben, eine Ausbildung zu machen oder Umschulungs- und Weiterbildungskurse zu absolvieren. Allerdings ist schon die zweite Generation - also diejenigen, die in Deutschland geboren sind - nicht betroffen.

Auch nach der Einwanderung nach Deutschland versuchen die Russlanddeutschen, ihre Besonderheiten zu bewahren. Ansonsten gäbe es nicht so viele Vereine und Organisationen unter dem Dach der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland…

Solche Organisationen sind nützlich. Den deutschen Behörden fehlt es an etwas mehr Sensibilität gegenüber den Migranten aus der ehemaligen UdSSR. In der Bundesrepublik gibt es immer noch kein Dokumentationszentrum oder Museum für die Geschichte der Russlanddeutschen. Es gibt ein kleines privates Museum in Detmold. Es existiert, solange das Sponsorengeld da ist. Die Russlanddeutschen sind ein unabdingbarer Teil der deutschen Geschichte. Dabei gibt es noch keine speziellen Forschungs- und Kulturstätten, die vom Staat finanziert wären. In Deutschland leben mittlerweile etwa 2,7 Millionen Russlanddeutsche aus den Nachfolgerepubliken der UdSSR. Zahlenmäßig ist es fast ein kleines Bundesland.

Das Interview führte Victor Weitz/ Olga Sosnytska

Redaktion: Bernd Johann