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Interview mit Rainer Erlinger

5. August 2011

Der verurteilte Mörder Magnus Gäfgen hat sich vor Gericht eine finanzielle Entschädigung erklagt. Er erhält Geld, weil ihm ein Polizist während des Verhörs Folter androhte. Ist das moralisch vertretbar?

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Justitia (Foto: Fotolia)
Bild: Fotolia/liveostockimages

Das Land Hessen muss dem Kindsmörder Magnus Gäfgen 3000 Euro Entschädigung zahlen. Polizisten hatten ihm mit Folter gedroht, weil sie hofften, auf diese Weise von Gäfgen das Versteck des im Jahr 2002 entführten elfjährigen Jakob von Metzler zu erfahren. Nach der Drohung führte Gäfgen die Polizisten zu der Leiche des Jungen. Er hatte ihn allerdings am Tag der Entführung erstickt und die Leiche in einem See versteckt. Die Entscheidung, Gäfgen eine Entschädigung zuzusprechen, hat in Deutschland eine Grundsatzdebatte entfacht: Dürfen Mörder Geld vom Staat bekommen? Die Deutsche Welle sprach darüber mit Rainer Erlinger. Er ist Autor, Arzt und Jurist und beschäftigt sich intensiv mit Fragen der Moral.

DW-WORLD.DE: Entschädigung für einen Kindsmörder: Viele Menschen verstehen das nicht. Sie sind wütend und ratlos. Gibt es einen Widerspruch zwischen Rechtsstaat und Moral?

Rainer Erlinger: "Wenn es überhaupt einen Widerspruch gibt, dann den zwischen Moral und Emotion. Das Urteil, das hier gesprochen wurde, ist meiner Meinung nicht nur im Sinne des Gesetzes richtig, sondern es hat tatsächlich auch eine moralische Berechtigung."

Worin sehen Sie denn die moralische Berechtigung? Die Strafkammer sprach vom Recht des Straftäters auf Achtung seiner Würde. Auch wenn dieser Straftäter gegen unsere Werteverordnung verstoßen habe.

"Ich würde mich tatsächlich dieser Formulierung anschließen und möchte betonen, dass es hier nicht nur um das Recht auf seine Würde geht, sondern darum, dass er diese Würde auch im moralischen Sinne hat. Es ist nicht so, dass der Gesetzgeber diese Würde allen Menschen zugewiesen hat und vergessen hat, Kindsmörder davon auszunehmen. Diese Würde steht nicht nur nach unserem Rechtsverständnis, sondern vor allem auch nach unserem moralischen Verständnis jedem Menschen zu. Er kann sie nicht verlieren, er muss sie nicht verdienen, sondern das ist etwas, was jedem Menschen allein auf Grund der Tatsache, dass er Mensch ist, zusteht. Darauf fußt nicht nur unser Rechtssystem, sondern vor allem auch unsere moralische Ordnung."

Bedeutet das, dass auch jemand, der wie Magnus Gäfgen massiv gegen moralische Werte, gegen die Moral, gegen Ethik, auch gegen den Rechtsstaat verstoßen hat, trotzdem Anspruch auf Werte, auf Würde, auf Entschädigung in einem solchen Fall hat?

"Das ist der zentrale Punkt, den man sich klarmachen muss. Er hat, egal was er tut, eine Menschenwürde, eben nur weil er Mensch ist. Wenn wir da anfangen zu sägen und ein bisschen was abschälen und sagen 'Nein, der nicht', bringen wir dieses ganze moralische Fundament ins Wanken. Die Grundüberlegung ist die: Ist es zulässig, dass unser Staat foltert oder die Folter androht? Das ist ganz klar zu beantworten mit nein. Das können wir auf gar keinen Fall zulassen. Unser Staat darf das nicht. Die zweite Frage ist: Wenn der Staat es dennoch tut, hat dann derjenige, dessen Würde durch diese Folter oder Folterdrohung verletzt wird, einen grundsätzlichen Anspruch darauf, dass er dafür entschädigt wird? Und da muss die zweite Antwort lauten: ja. Sonst würde man in diesem zweiten Schritt vor den Gerichten sagen: 'Du bist zwar verletzt worden, aber das macht nichts, weil in dem Fall die Umstände so besonders sind, dass es zulässig war.' Damit würden wir die Folter durch die Hintertür doch zulassen."

Es ist aber doch schon Genugtuung geschehen. Die verantwortlichen Polizeibeamten, die Magnus Gäfgen Folter angedroht haben, sind bestraft worden. Hätte das nicht auch gereicht?

"Ich bin nicht glücklich über dieses Urteil und ich hätte, wenn ich Herrn Gäfgens Berater gewesen wäre, seinem Anwalt gesagt: 'Lasst das lieber sein mit dieser Klage!' Ich halte weder die Klage für glücklich noch gefällt mir das Ergebnis, weil es viele Menschen in ihren Empfindungen und in ihrem moralischen Gefühl entgegensteht. Aber wenn man die Gefühle raus lässt, muss man sagen, dass die Bestrafung derjenigen, die das getan haben und die Entschädigung zwei verschiedene Sachverhalte sind. Dabei handelt es sich nur um die Situation des Opfers, also um die Person, die gefoltert werden sollte. Das sind zwei Dinge, die nicht direkt miteinander vergleichbar sind."

Wenn man es überspitzt formulieren will, wird in diesem Fall der Täter zum Opfer. Aber viele Beobachter haben auch sein Auftreten vor Gericht in den verschiedenen Verhandlungsstufen als sehr selbstgerecht und egozentrisch beurteilt. Wie würden sie denn einen solchen Menschen einschätzen aus der Entfernung?

"Ich finde das nicht glücklich, dass er zum Opfer wird, obwohl er bei dieser grauenvollen Tat der Täter ist. Ich kann mich, das muss ich gestehen, nur ganz schwer in die Seele eines Kindsmörders hineinversetzen. Das ist mir einfach zu weit weg. Ich kann nur vermuten, dass er vielleicht selbst mit seiner Tat kämpft und versucht, irgendwelche Punkte zu finden, an denen er sich im Recht zu fühlen meint. Ich kann nur, wenn ich es von Außen betrachte, sagen: Das ist nicht glücklich gelaufen. Aber ich bin der Meinung, dass die Diskussion in gewissem Maße notwendig für unser Rechtssystem war. Und vor allem auch für unser moralisches System."


Das Gespräch führte Cornelia Rabitz

Redaktion: Sabine Oelze