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Beruf Soldat: Bestürzende Inneneinsichten

20. April 2011

In einem Archiv entdeckt ein Historiker Abhörprotokolle von Wehrmachtssoldaten. Es sind so einmalige wie schockierende Dokumente: Soldaten sprechen unbefangen über Kämpfen, Töten - und ihre unverhohlene Freude daran.

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Wehrmachtssoldaten bei einer Exekution (Foto: AP)
Bild: AP

Als Historiker Sönke Neitzel 2001 im britischen Nationalarchiv auf ein nahezu unberührtes Aktenbündel stößt, kann er kaum glauben, was er da in den Händen hält: Abhörprotokolle deutscher Wehrmachtssoldaten in Kriegsgefangenschaft. Also Aufzeichnungen von intimen Gesprächen zwischen Soldaten, die nicht wussten, dass ihnen ein Dritter zuhörte und alles akribisch aufschrieb.

Die Briten und später auch die US-Amerikaner hofften, auf diesem Weg an geheime Kriegsinformationen zu kommen. Von Waffenlagern oder Geheimwaffen hörten sie wenig. Dafür aber jede Menge über den Alltag des Krieges, übers Kämpfen, Töten und Sterben.

"Es ist mir ein Bedürfnis geworden, Bomben zu werfen. Das prickelt einem ordentlich, das ist ein feines Gefühl. Das ist ebenso schön wie einen abzuschießen."

Vorrückende Wehrmachtssoldaten marschieren am 6. September 1939 in Polen an kriegsgefangenen polnischen Soldaten vorbei, die ihre verwundeten Kameraden in ein Feldlazarett tragen. Am 1. September stiessen Heeresverbaende der Wehrmacht in zwei Angriffskeilen mit insgesamt 1,5 Millionen Soldaten und unterstuetzt von der Luftwaffe Richtung Warschau vor. Bis zum 6. Oktober wurde die polnische Armee von der technisch hochgeruesteten Wehrmacht vernichtend geschlagen (Foto: AP).
Vorrückende Wehrmachtssoldaten marschieren am 6. September 1939 an polnischen Kriegsgefangenen vorbeiBild: AP

Insgesamt findet Sönke Neitzel 150.000 Seiten Abhörprotokolle und beschließt gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer dieses seltene Material auszuwerten. "Wir haben sehr darauf geachtet, dabei nicht bewertend vorzugehen. Wir wollten uns nicht einfach nur empören, wie schrecklich das ist, was die Soldaten getan haben." Vielmehr sei es den beiden Wissenschaftlern darum gegangen, zu verstehen, was diese Männer gedacht haben und wie es dazu kommen konnte, dass sie derartige Verbrechen begehen.

Spaß am Morden

Dennoch gehen den beiden Wissenschaftlern die nachzulesenden Gespräche unter die Haut. Hier erzählen sich Soldaten gegenseitig, welchen Spaß ihnen das Morden machte oder wie viele Frauen sie vergewaltigt haben. Selten äußern die anwesenden Gesprächspartner Widersprüche oder Kritik an diesen befremdlichen Prahlereien. Normale Männergespräche über Arbeit seien das, sagt Harald Welzer. Doch ihre Arbeit war nun einmal der Krieg.

Deutsche ISAF Soldaten stehen mit Maschinengewehren vor einem Panzer in Mazar-e-Sharif, nördlich von Kabul, Afghanistan (Foto: AP Photo).
Deutsche Soldaten in AfghanistanBild: AP

Als der Historiker Neitzel dem Sozialpsychologen Welzer von den Abhörprotokollen erzählte, war auch ihm schnell klar, was für ein einzigartiges Material hier vorliegt. Sonst liegen über die Innensichten von Soldaten in der Regel nur Feldpostbriefe oder Memoiren vor - aus wissenschaftlicher Sicht ein eher begrenztes Material, sagt Welzer. "Wenn jemand an die Mama zu Hause schreibt, erzählt er natürlich nicht, dass er Frauen vergewaltigt hat." Die nun entdeckten Dokumente seien daher eine Sensation: "So ein Material haben wir nicht einmal für zeitgenössische Kriege wie in Afghanistan, weil erstens solche Dialoge wohl nicht aufgezeichnet werden und zweitens käme man an solche Akten als Wissenschaftler auch gar nicht dran."

In dem Buch geht es also auch um generelle Fragen: Welche Mentalität haben Soldaten, wie ist ihre eigene Sicht auf den Krieg? Aufgefallen ist den Autoren, dass es bei den Gesprächsinhalten keine nennenswerten Unterschiede hinsichtlich der Herkunft, des Alters oder des Dienstgrades gibt.

"Krieg ist ein Handwerk"

Portraitfoto Harald Welzer (Foto: S. Fischer Verlag).
Sozialpsychologe Harald WelzerBild: Thomas Langreder

Nach Durchsicht der Abhörprotokolle sind die beiden Wissenschaftler überzeugt, dass sich von den Gesprächen der Wehrmachtssoldaten Rückschlüsse auf alle weiteren Kriege ziehen lassen. Eine bestürzende Innenschau, die deutlich zeigt: Die Logik des Krieges lässt Soldaten verrohen. So ist in einem Abhörprotokoll zu lesen:

"Am ersten Tag ist es mir furchtbar vorgekommen. Da habe ich gesagt: Scheiße, Befehl ist Befehl. Am zweiten und dritten Tag habe ich gesagt: das ist ja scheißegal, am vierten Tag, da habe ich meine Freude daran gehabt."

Der Krieg sei ein Handwerk, sagt Sönke Neitzel. "Und je besser Soldaten in diesem Handwerk sind, desto eher überleben sie, desto eher haben sie Erfolg, und mit Hilfe dieses Erfolges definieren sie sich auch." Hinsichtlich dieses Handwerkes habe sich nicht viel geändert. "Ein Scharfschütze der Wehrmacht und ein Scharfschütze der Bundeswehr in Afghanistan haben letztendlich dieselbe Aufgabe. Zwar sehen das Gewehr und die Uniform heutzutage anders aus, aber ihre Aufgabe, jemanden zu erschießen, ist ein und dieselbe."

Neitzel ist überzeugt, dass Soldaten in solchen Momenten nicht über Ideologie nachdenken, weder der Wehrmachtsoldat über die NS-Ideologie, noch der Bundeswehrsoldat über das Grundgesetz.

Jeder Krieg macht Männer zu Mördern

Portraitfoto Sönke Neitzel (Foto: Petra A. Killick).
Historiker Sönke NeitzelBild: Petra A. Killick

Sicher habe es auch stramme Nationalsozialisten unter den Soldaten gegeben, die aus voller antisemitischer Überzeugung Juden ermordeten. Dies sei aber die Minderheit gewesen. Neitzel und Welzer spitzen ihre These sogar zu: Nationalsozialistische Gewalt sei nicht gewalttätiger als jede andere. Prägender für die Gräueltaten sei weniger eine Ideologie wie beispielsweise die des Nationalsozialismus, sondern ein militärisches Wertesystem, das Männer zu Mördern mache.

Sozialpsychologe Harald Welzer findet es daher auch verlogen, wenn sich die Öffentlichkeit über Kriegsverbrechen empört. Schließlich seien diese systemimmanent. "In jedem modernen Krieg passieren genau diese Dinge, über die diese Wehrmachtssoldaten sprechen. Wenn man etwas daran ändern will, dann muss man den Krieg abschaffen und stattdessen zwischenstaatliche Konfliktregelungen finden, die nicht des Tötens bedürfen."

Autorin: Nadine Wojcik

Redaktion: Aya Bach

Cover des Buches "Soldaten - Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben", veröffentlicht April 2011 im S. Fischer Verlag (Foto: S. Fischer Verlag).

Neitzel / Welzer: Soldaten - Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben

Verlag: S. Fischer

ISBN: 9783100894342

Preis (EURO): 22.95