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Afghanische Flüchtlinge in Tadschikistan

16. November 2010

In der Hoffnung, weiter nach Europa oder Amerika auswandern zu können, fliehen immer mehr Afghanen nach Tadschikistan. Hier sind sie wenig willkommen, doch auch die Chancen auf eine Weiterreise stehen schlecht.

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Familienfoto der Flüchtlingsfamilie Muhammad (Foto: Edda Schlager / DW)
Familie Muhammad ist aus Afghanistan nach Tadschikistan geflüchtetBild: Schlager
Ikbaly Muhammad mit seiner Stiefmutter beim Wasserholen (Foto: Edda Schlager / DW)
Ikbaly Muhammad mit seiner Stiefmutter beim WasserholenBild: Schlager

Der 18-jährige Ikbaly Muhammad lebt seit ein paar Monaten mit seinem Vater, der Stiefmutter und vier Geschwistern in Wakhdat, einem Vorort der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. Sie bewohnen eine Zweizimmerwohnung in einer heruntergekommenen Mietskaserne. Weil der Wasseranschluss nicht funktioniert, muss Ikbaly zweimal am Tag Wassereimer vom Aryk - dem offenen Kanal im Hof - in die dritte Etage des Plattenbaus schleppen. Sehnsuchtsvoll erinnert er sich dann jedes Mal an sein Zuhause in Masar-i-Sharif in Afghanistan. Dort hatte die Familie ein Haus und einen eigenen Brunnen.

Doch in Afghanistan hatten Kriminelle Ikbalys Mutter und seine jüngste Schwester ermordet. Zwar wurde der Mörder gefasst und zum Tode verurteilt, doch Verwandte kauften ihn frei. Drei Jahre lang kämpfte Ikbalys Vater um eine erneute Verurteilung des Mörders – bis er selbst mit dem Tode bedroht wurde. Die afghanische Familie entschied, die von Korruption und fehlender Rechtsstaatlichkeit zerrüttete Heimat zu verlassen.

Als UN-Wahlhelfer entführt

Familie Fotekhon (Foto: Edda Schlager / DW)
Familie FotekhonBild: Schlager

Auch Abdul Fotekhon ist mit Frau und Kindern vor der Gewalt in Afghanistan geflohen. Bei den afghanischen Präsidentschaftswahlen im August 2009 hatte er als Wahlhelfer für die Vereinten Nationen gearbeitet. Als er andere Afghanen aufforderte, an den Wahlen teilzunehmen, wurde er von Aufständischen verschleppt. "Sie haben mich gefesselt, die Augen verbunden und sind mit mir weggefahren", erinnert er sich. "Dann wurde ich verhört, sie schrien mich an: 'Warum arbeitest du für die Amerikaner, du bist Muslim'."

Zwei Monate hielten die Entführer Fotekhon fest, dann konnte er fliehen. Doch ihm war klar, dass er weg musste aus Afghanistan, und so entschied er sich für den kürzesten Fluchtweg zum nördlichen Nachbarn Tadschikistan.

Wie diese beiden Familien sind in den vergangenen Jahren immer häufiger afghanische Flüchtlinge nach Tadschikistan gekommen, vor allem aus Nord-Afghanistan, wo die Taliban an Einfluss gewinnen.

Reger Grenzverkehr

Grenzübergang Nizhny Pjansch (Foto: Edda Schlager / DW)
Der größte Grenzübergang Nizhny PjanschBild: Schlager

Tadschikistan hat sich dem südlichen Nachbarn geöffnet – fünf neue Grenzübergänge wurden gebaut, vor allem der Handel zwischen den beiden Ländern blüht. Mit einem Visum können Afghanen ganz legal nach Tadschikistan einreisen. Viele tun das, um Geschäfte zu machen. Doch rund 4500 Afghanen haben in den vergangenen beiden Jahren diesen Weg auch zur Flucht genutzt. Unterstützung bekommen die Afghanen in Tadschikistan lediglich vom UN-Flüchtlingswerk UNHCR.

Ilya Todorovic, UNHCR-Chef in Tadschikistan, kritisiert den Umgang der tadschikischen Regierung mit den Afghanen, denn Integration sei praktisch nicht möglich. So ist es den Flüchtlingen verboten zu arbeiten. Und "wenn sie nicht in Gebieten leben, die ihnen von der Regierung vorgegeben sind", so Todorovic, "verlieren sie ihren Status als Flüchtling – das ist ganz klar eine Verletzung des internationalen Rechts".

Misstrauen bei den Tadschiken

Städte wie Wakhdat, die den Afghanen zugewiesen wurden, haben jedoch kaum Infrastruktur; Strom und Wasser gibt es nur unregelmäßig, die Flüchtlinge sind isoliert. So wie Ikbalys Vater sehen deshalb die meisten Afghanen in Tadschikistan keine Zukunft. "Es gibt hier keine Arbeit, das Lebensniveau ist niedrig, es fehlt an Bildung." Er wolle das Land so schnell wie möglich verlassen.

Grenzfluss Pjansch zwischen Afghanistan und Tadschikistan im Pamirgebirge (Foto: Edda Schlager / DW)
Grenzfluss Pjansch zwischen Afghanistan und Tadschikistan im PamirgebirgeBild: Schlager

Die meisten afghanischen Flüchtlinge betrachten Tadschikistan nur als Transitland, sie wollen weiter nach Europa oder Amerika. Denn Tadschikistan, das arm und politisch instabil ist, bietet kaum bessere Entwicklungschancen als die alte Heimat. Dass viele Flüchtlinge nur nach Tadschikistan kommen, um möglichst schnell weiterzureisen, ist unter den Afghanen kein Geheimnis.

Bei Hilfsorganisationen herrscht Misstrauen gegenüber den afghanischen Flüchtlingen. Parwiz Shokhumorow, der sich im Auftrag von UNHCR um Flüchtlinge aus Afghanistan kümmert, macht daraus keinen Hehl: "Sie halten unsere Hilfe für selbstverständlich, aber selbst zu versuchen, an ihrer Situation etwas zu ändern, das kennen sie nicht."

Kaum Chancen auf Weiterreise

Shokhumorow kontrolliert regelmäßig afghanische Familien und deren Bedürftigkeit. Er prüft, ob auch wirklich so viele Kinder in einem Haushalt leben, wie angegeben, oder ob Frauen, die sich als Witwen ausgeben, die Wahrheit sagen. Er will ermitteln, wie viel Hilfe jede Familie wirklich benötigt. Denn viele Afghanen, so sagt er, wollten mehr finanzielle Unterstützung herausschlagen als ihnen zusteht.

Passkontrolle am Grenzübergang Nishny Pjansch (Foto: Edda Schlager / DW)
Passkontrolle am Grenzübergang Nishny PjanschBild: Schlager

Wenn Shokhumorow tatsächlich entdeckt, dass jemand unberechtigt Unterstützung in Anspruch nimmt, wird ihm die Beihilfe entzogen. Für Tadschikistan ist das Problem so dennoch nicht gelöst.

Denn obwohl die meisten der afghanischen Flüchtlinge so schnell wie möglich weiterwollen, haben sie kaum eine Chance, legal in den Westen auszuwandern. So bleiben sie auf unbestimmte Zeit in Tadschikistan. Das ist jedoch nur eine Last mehr für das ärmste Land in Zentralasien – und ein weiterer Schritt hin zur Destabilisierung der gesamten Region.

Autorin: Edda Schlager
Redaktion: Esther Broders