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Wie wäre es mit einer Wahlpflicht?

3. November 2010

20 Jahre nach der deutschen Einheit ist der Anteil an Nichtwählern in Ostdeutschland noch immer höher als in Westdeutschland. Der Politologe Thorsten Faas erklärt, warum das ein Problem für das gesamte Land ist.

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Thorsten Faas (Grafik: DW)
Thorsten FaasBild: DW

Politische Partizipation ist das Lebenselixier der Demokratie, die freie Wahl der Kristallisationspunkt, in dem sich ihre Kernidee - "Government by the People" - manifestiert. Erst vor diesem Hintergrund erwächst aus dem 1989 millionenfach ertönten Ruf "Wir sind das Volk!" eine politische Forderung: Demokratie bedeutet Volksherrschaft, also wollen wir herrschen. Im Gegensatz zu den alten Griechen können wir uns heute aber nicht mehr alle auf dem Marktplatz versammeln, um dort politische Entscheidungen direkt zu treffen. Stattdessen leben wir in der repräsentativen Variante der Demokratie. Das heißt, dass sich unsere Herrschaft darauf beschränkt, in regelmäßigen Abständen Abgeordnete zu wählen, die uns in Parlamenten vertreten.

Feiertage der Demokratie

Wahltage, an denen wir unser freies Wahlrecht ausüben können, sind Feiertage der Demokratie. Umgekehrt bedeutet dies: Das Ausmaß tatsächlicher Beteiligung der Bürger an Wahlen ist ein Gradmesser für den Zustand einer Demokratie. Wie ist es dann um die Demokratie in Deutschland 20 Jahre nach der Einheit bestellt?

Man würde erwarten, dass die Bürger in Ostdeutschland von ihrem – erst 1989 erkämpften - freien Wahlrecht umfassend Gebrauch machen, wenn sie an die Wahlurnen gerufen werden. Das tun sie auch: Eine große Mehrheit der Ostdeutschen gibt tatsächlich ihre Stimme ab. Aber zugleich gilt: Die Wahlbeteiligung in den fünf neuen Bundesländern bleibt seit 1990 durchweg hinter der Wahlbeteiligung in Westdeutschland zurück, wie die folgende Abbildung zeigt.

Beteiligung an Bundestagswahlen in Ost- und Westdeutschland seit 1990 (Grafik: DW)

Schon 1990 lag die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland mit 74,5 Prozent etwa vier Prozentpunkte niedriger als in Westdeutschland (78,6 Prozent). Bei der jüngsten Wahl 2009 betrug der Unterschied sogar 7,5 Prozentpunkte. Mit einer Wahlbeteiligung von nur 64,8 Prozent blieb jeder dritte Ostdeutsche am Wahltag zu Hause. Die Festtagsstimmung hielt sich offenbar in Grenzen.

Der gewichtigste Grund für diese Unterschiede ist eine subjektiv empfundene Wahlpflicht, die die Ost- und Westdeutschen unterschiedlich stark verinnerlicht haben. Der Aussage "In der Demokratie ist es die Pflicht jedes Bürgers, sich regelmäßig an Wahlen zu beteiligen" stimmten in einer Umfrage im Nachgang zur Bundestagswahl 2009 nur rund 50 Prozent der Ostdeutschen, dagegen rund 70 Prozent der Westdeutschen zu.

Wichtig ist diese Gefühl vor allem im Sinne eines Puffers: Menschen mögen unzufrieden oder enttäuscht sein - solange sie subjektiv eine Pflicht zur Wahlteilnahme empfinden, bleiben sie in den politischen Prozess integriert. Dieser Puffer existiert in Ostdeutschland nicht in gleichem Maße wie in Westdeutschland, weshalb wir dort niedrigere Wahlbeteiligungsraten bei Bundestags-, vor allem aber auch bei Landtagswahlen beobachten können.

Drohender Teufelskreis

Nun könnte man einwenden: Wo liegt das Problem? Menschen entscheiden aus freien Stücken, von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch zu machen. Das ist zwar richtig, blendet allerdings einen Aspekt aus. Es droht ein Teufelskreis: Rationale Politiker werden ihr Handeln an Wählern, nicht an Nichtwählern ausrichten, was bei Nichtwählern zu weiterer Entfremdung führen kann und eine niedrige Wahlbeteiligung zementiert. Das kann nicht gewollt sein.

Im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 gab es vereinzelte und leise Rufe nach einer Wahlpflicht. Vielleicht wäre es an der Zeit, diese Diskussion lauter zu führen. Was früher eine verinnerlichte Wahlnorm geleistet hat, könnte heute eine explizite Wahlpflicht leisten, nämlich Menschen in den politischen Prozess integrieren, in guten wie in schlechten Zeiten. Zumindest mit Blick auf die Wahlbeteiligung würden dann auch die Unterschiede zwischen Ost und West kleiner werden.

Autor: Thorsten Faas
Redaktion: Kay-Alexander Scholz

Thorsten Faas (Foto: privat)
Bild: privat

Thorsten Faas, geboren 1975, ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und forscht insbesondere zum Wählerverhalten. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören außerdem die Themen Wahlkämpfe und politische Folgen von Arbeitslosigkeit.