1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Dezentral und kompliziert

27. Oktober 2010

Auf der Suche nach Vorbildern für die Dezentralisierung des Landes bereisten bolivianische Politiker Deutschland. Um ein Haar hätten sie den Eindruck eines perfekt funktionierenden Modells mitgenommen.

https://p.dw.com/p/Po9b
Landbevölkerung bei der Stimmabgabe im Hochland von Bolivien (AP Photo/Dado Galdieri)
Nicht mehr ausgegrenzt: Boliviens IndiosBild: AP

Boliviens "Neugründung", so nannte Präsident Evo Morales die Anfang 2009 in einer Volksabstimmung gebilligte Verfassung. Sie legt weitgehende Autonomieregelungen für verschiedene staatliche Ebenen fest, darunter für die neun "Departamentos", aber auch für die oft nur wenige hundert Mitglieder zählenden Völker der indianischen Landbevölkerung. Die Frage, wie man einen Staat dezentral organisiert, führte eine Delegation bolivianischer Politiker und Juristen jetzt auch nach Deutschland.

Auf Einladung der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) erkundete die bunt zusammengewürfelte Gruppe den deutschen Föderalismus: Frauen und Männer, Oppositionelle wie Regierungstreue, der Präsident des Verfassungsgerichtes gehörte ebenso dazu wie der Vertreter einer Indiogemeinschaft. Für letzteren, Santiago Onofre Aspi, aus dem Hochland von La Paz, rückt mit der neuen Verfassung in Bolivien das Ende der Ausgrenzung der "Indígenas" näher. Mit dem Modell des Vielvölkerstaates nehme man die indianische Landbevölkerung endlich zur Kenntnis und akzeptiere sie in der Gesellschaft, sagt Onofre: "Wir wählen unsere Autoritäten selbst, wir verwalten die Mittel, die uns der Staat gibt, und stecken sie in Dinge, die uns wichtig sind."

Eigene Gerichtsbarkeit für Indio-Gemeinschaften

"Plurinationaler Staat Bolivien" heißt das Andenland neuerdings offiziell. 37 indigene Sprachen sind anerkannt. Die von Präsident Morales initiierte Verfassung sieht auch vor, dass die Indio-Gemeinden eine eigene Justiz nach traditionellen Normen und Prozeduren haben dürfen. Dafür wird eine eigene Rechtssprechung entworfen, sagt die Anwältin Cecilia Ayllon. Sie leitet eine Parlamentskommission, die unter anderem den gesetzlichen Rahmen für die ländliche indigene Gerichtsbarkeit erarbeiten soll. Die ursprüngliche indigene Gerichtsbarkeit habe nichts mit Lynchjustiz zu tun, betont sie.

Erst kürzlich war die Nachricht durch die internationalen Medien gegangen, dass in der Provinz Potosí vier Polizisten von Quechua-Indianern mit Steinen und Stockschlägen getötet wurden, die man der Verwicklung in Autodiebstähle, Erpressung und Morde beschuldigte. Diese Fälle seien gewöhnliche Verbrechen, dagegen habe die Justiz der Indígenas "den Frieden und das Leben zum Ziel", sagte die Anwältin.

Interesse an innerstaatlicher Solidarität

Rubén Costas, Gouverneuer von Santa Cruz (AP Photo/Martin Mejia)
Rubén Costas, Vorkämpfer für die AutonomieBild: AP

Besonders interessant war für die zahlreichen Juristen in der bolivianischen Delegation die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit, die dem Bürger Rechtsschutz gegenüber staatlichem Handeln gibt. In Bolivien landen solche Fälle derzeit vor normalen Gerichten.

Nicht nur indigene Völker profitieren von der in der Verfassung verankerten Autonomie, sondern auch die neun "Departamentos", die in ihrer Größe am ehesten mit deutschen Bundesländern vergleichbar sind. Boliviens reichstes "Departamento" Santa Cruz wird von Rubén Costas regiert, der sich als Gegenspieler von Präsident Evo Morales einen Namen gemacht hat. Der 55-jährige Politiker hörte mit Interesse die Ausführungen der Experten über den Finanzausgleich und die innerstaatliche Solidarität zwischen den deutschen Bundesländern. Seine Provinz steuere mehr als 50 Prozent zu den Staatseinnahmen bei, erhalte aber nur einen Bruchteil zurück. Costas hatte 2008 mit einem illegalen Referendum vergeblich versucht, eine weitgehende Autonomie von Santa Cruz nach eigenen Vorstellungen durchzusetzen.

Die mittlerweile von Präsident Morales und seiner Bewegung zum Sozialismus durchgesetzten Autonomieregeln dürften dem Mann aus Santa Cruz viel zu eng sein. Immerhin kann er darauf verweisen, dass es die von seinen Anhängern ausgehenden Proteste waren, die Morales zum Handeln zwangen: " Man hat mein Departamento oft kritisiert, weil es den Prozess für die Autonomie angeführt hat. Es hieß, wir täten dies, weil wir das reichste Land seien, wenig solidarisch, weil wir Privilegien wollten. Nicht ist falscher als das, denn heute hat das ganze Land Autonomie, dank des Kampfes, den Santa Cruz anführte."

Kleine Überraschung zum Schluss

Richter des Bundesverfassungsgerichts in roten Roben stehen vor der Wand mit dem Bundesdadler Foto: Uli Deck dpa
"Beeindruckende Institutionalität" - das BundesverfassungsgerichtBild: picture-alliance/ dpa

In Berliner Ministerien, bei Bundestag, Bundesrat, beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und im deutschen "Musterländle" Baden-Württemberg sammelten die Bolivianer Eindrücke über den deutschen Bundesstaat und sein Verhältnis zu den 16 Bundesländern. Er habe eine beeindruckende und offenbar tief verwurzelte Institutionalität erlebt, sagt der 38-jährige Senator Bernard Gutiérrez von der oppositionellen Convergencia Nacional. Wenn die Richter beim Verfassungsgericht in Karlsruhe ihre roten Roben anlegten, spüre man förmlich, wie aus der Person eine Institution werde.

Das dicht gedrängte Programm ließ den Gästen kaum Gelegenheit zum Blick hinter die Kulissen des deutschen Föderalismus. So kamen sie aus dem Staunen nicht heraus, als zum Abschluss ihres Besuchs aus einer Fragerunde mit hochkarätigen deutschen Experten unversehens ein internes Streitgespräch zwischen den deutschen Professoren über Länderfinanzausgleich und Sinn oder Unsinn der Existenz kleiner Bundesländern wurde. Verblüfft meinte Senator Gutiérrez: "Das war sehr interessant. Wenn es diese Runde nicht gegeben hätte, wären wir mit dem Eindruck nach Hause gefahren, dass Deutschland ein perfektes System hat."

Autor: Bernd Gräßler 
Redaktion: Kay-Alexander Scholz