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"Protest als Mittel der Einflussnahme"

20. Oktober 2010

In deutschen Städten formiert sich Widerstand. Die Bürger wollen mitreden und demonstrieren gegen Atomkraft und einen Bahnhofsbau. Erlebt Deutschland gerade eine neue Protestkultur aus der Mitte der Gesellschaft ?

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Demonstranten auf dem Odeonsplatz in München (Archivfoto: dpa)
Demonstranten in MünchenBild: picture alliance/dpa

Interview mit Prof. Dieter Rucht, Protestforscher und Professor für Soziologie und Politikwissenschaft am Wissenschaftszentrum in Berlin (WZB)

DW-WORLD.DE: Generationsübergreifend wird derzeit in Deutschland gegen Atomkraft demonstriert, und in Stuttgart ist ein breites Spektrum von Bürgern unterwegs, um einen neuen Bahnhof zu verhindern. Erleben wir eine neue Protestkultur, einen Aufstand aus der Mitte der Gesellschaft?

Prof. Dieter Rucht: Nein, das ist keine neue Protestkultur, sondern vielmehr ein fast abruptes mediales Erwachen über einer Protestkultur, die sich im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte herausgebildet hat, aber bislang nicht als Ausdruck einer "Kultur" mit bestimmten Mustern wahrgenommen wurde.

Hört man sich die Motive der Demonstranten an, scheinen sich viele Bürger gegen den Einfluss von Unternehmerlobbys auf die Politik wehren zu wollen. Ist das neu? Und was bedeutet es?

Die Kritik am Lobbyismus, zum Beispiel am so genannten Verbändestaat in Deutschland, stammt aus den 1950er Jahren. Allerdings hat der Lobbyismus zugenommen und sich stark professionalisiert, während zugleich die politischen Zusammenhänge komplexer geworden sind. Regierungen und Verwaltung, die manchmal personell und fachlich überfordert sind, nehmen dann dankbar die Angebote und Zulieferungen der Lobbyisten an. Zugleich haben sich aber auch kritische Gruppen wie LobbyControl gebildet, die Einflussnahmen der Lobbyisten kritisch dokumentieren. Vor allem im Zuge der Finanzkrise ist in der Bevölkerung der Eindruck entstanden, dass die Politik zu stark von mächtigen Privatinteressen beeinflusst wird.

Gibt es überhaupt etwas Neues in der Protestkultur im Herbst 2010 in Deutschland?

Nein, es gibt keine wirklich neuen Elemente, aber bestimmte Elemente treten nun deutlicher hervor: die Normalität politischen Protests als eines rationalen Mittels der Einflussnahme, die soziale Verbreitung von Protest bis hinein in privilegierte Gruppen - z.B. Zahnärzte -, die organisatorische und strategische Flexibilit der Protestträger, die Ausrichtung des Protests auf massenmediale Resonanz, die Vervielfältigung der Protestthemen usw.

Bei massivem Polizeieinsatz gegen Demonstranten in Stuttgart gab es zahlreiche Verletzte und inzwischen auch eine lange Liste von Strafanzeigen gegen die Polizei - was bedeutet das für die Demokratie und die Streitkultur in Deutschland?

Diese Vorgänge haben bei vielen Beobachtern, und insbesondere bei den Gegnern von Stuttgart 21, das Vertrauen in die politische Führung und die Polizei erschüttert, da hier harmlose Bürger und nicht die sonst üblichen Verdächtigen wie Links- oder Rechtsradikale, "Militante" oder "Chaoten" Opfer der Übergriffe wurden.

Schaut man sich in Europa um - z.b. in Griechenland und Frankreich - wird auch Protest auf der Strasse oder durch Streik gezeigt. Unterschiedliche Anlässe, aber gibt es dennoch Zusammenhänge?

In Deutschland sind die verschiedenen Protestthemen bislang ziemlich unverbunden. Auch gibt es im Zusammenhang mit konkreten Protestthemen keine breiteren Anti-Regierungsbündnisse oder Massenproteste, die sich, wie in Frankreich und Italien, gegen die Regierungen bzw. die Repräsentanten des Staates richten. Die Gewerkschaften in Deutschland sind moderat, streiken relativ wenig und haben auch kein politisches Streikrecht wie in vielen anderen Ländern.

Auch in anderen Ländern wurde gegen Großprojekte demonstriert - gegen den Staudammbau im Osten der Türkei (Hasankef) zum Beispiel oder gegen Staudammbauten in Indien - ist dies eher vergleichbar? Gibt es auch in Deutschland eine wachsende Sorge vor naturzerstörenden Großprojekten?

Die Proteste gegen Großprojekte treffen teilweise ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auf unterschiedliche Weise. In Indien und China richten sich die Proteste im Zusammenhang mit Staudämmen in erster Linie gegen Zwangsumsiedlungen bzw. ausbleibende Entschädigungen für die ländliche Bevölkerung; in der Türkei geht es auch um den Schutz alter Kulturgüter; und in Lateinamerika sind großflächige Öko-Systeme und indigene Stämme bedroht. Der Protest gegen Stuttgart 21 wiederum wird von einer städtischen Bevölkerung getragen und speist sich aus vielen Motiven, die nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen sind.

40 Jahre Protestkultur in Deutschland - gibt es so was wie "lessons learned"? Wie sollten oder könnten Politiker damit umgehen?

Es gibt Lektionen für die politischen Repräsentanten: frühzeitig über verschiedene Planungsalternativen informieren, deren Vor- und Nachteile öffentlich erörtern, Transparenz in allen Planungs- und Finanzierungsfragen, Einschaltung von experimentellen Formen der Beteiligung wie Bürgerforen und Planungszellen, bei starker Polarisierung, Mediationsverfahren, Bürgerentscheide, Volksbegehren und Volksentscheide.

Die Protestbewegung der 68'er in Deutschland hat sich irgendwann zum Marsch durch die Institutionen formiert - zeigt der Protest in Stuttgart auch, dass die Bürger es leid sind, in einer Welt in der von ihnen ständig Flexibilität erwartet wird, sich an einem 15 Jahre dauernden Genehmigungsverfahren zu beteiligen?

In Stuttgart musste man lange den Eindruck haben, dass die Planungen, bei politisch wechselnden Konstellationen im Gemeinderat, nicht nachdrücklich verfolgt wurden. Unter diesen Bedingungen waren auch keine frühen Massenproteste zu erwarten. Zudem hat sich nicht nur die Geschäftsgrundlage der Planung geändert - insbesondere höhere Kosten, kritische Fachgutachten - sondern es beteiligen sich nun auch junge Leute, von denen man nicht erwarten kann, dass sie sich schon im Kindesalter für das Projekt hätten interessieren sollen. Die verantwortlichen Politiker zeigten sich bislang äußerst unflexibel im Umgang mit dem Widerspruch, weil sie fürchten, dass das Eingeständnis von Fehlern das Ende des Projekts bedeuten könnte. Genau dies schadet aber zusätzlich dem Ansehen der "politischen Klasse".

Das Interview führte: Ulrike Mast-Kirschning
Redaktion: Mechthild Brockamp / Martin Schrader