1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gewalt nimmt zu

19. Oktober 2010

Die Terrorangriffe von Grosny zeigen, dass die Lage dort alles andere als befriedet ist, meinen Experten. Der Präsident Ramsan Kadyrow könne sich nur durch Gewalt und "extralegale Mittel" an der Macht halten.

https://p.dw.com/p/PhlK
Polizei und Soldaten sichern am 19.10.2010 das Gebiet um das Parlamentsgebäude in Grosny ab (Foto: dpa)
Schießerei im Parlament von GrosnyBild: picture alliance/dpa

Bei einem Angriff schwer bewaffneter Terroristen auf das Parlament der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien hat es am Dienstag (19.10.2010) zahlreiche Tote und Verletzte gegeben. Erst im April letzten Jahres hatte Moskau die höchste Terrorwarnstufe und den Ausnahmezustand in Tschetschenien aufgehoben. Aber die Republik sei nicht wirklich befriedet, wie es die russische Regierung verkündet hatte, meint der deutsche Politikexperte Uwe Halbach von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.

Uwe Halbach, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Forschungsgruppe Russland/GUS (Foto: SWP)
Uwe Halbach warnt vor einer Ausweitung des KonfliktesBild: SWP

Hinweise darauf gebe es genug: Seit 2009 nehme in der ganzen Region die Gewalt deutlich zu und gehe von Aufständischen aus, die sich gegen die bestehenden Machtstrukturen richten. "Wir haben jetzt in Tschetschenien einen Trend, der sich auch in den anderen nordkaukasischen Republiken, wie in Kabardino-Balkarien, in Dagestan, gezeigt hat, dass Anschläge ganz gezielt gegen staatliche Strukturen gerichtet werden, gegen Sicherheitsorgane, gegen Behörden, in diesem Fall gegen das Parlament."

Zwei Kriege hinterlassen ihre Spuren

Tschetschenien sagte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 einseitig von Moskau los. 1994 kam es zum ersten russischen Tschetschenien-Feldzug gegen die Separatisten. Dieser endete 1996 mit der schweren Zerstörung und Rückeroberung der Stadt Grosny und einem brüchigen Waffenstillstand.

1999 marschierten wieder russische Soldaten ein. Die militärische Offensive des zweiten Tschetschenien-Krieges dauerte bis zum Frühjahr 2000 und endete mit einer Besetzung des Landes durch russische Truppen. Der darunterliegende Konflikt bleibt jedoch nach wie vor ungelöst. Immer wieder übten tschetschenische Guerilla-Kämpfer Angriffe auf die Armee und Terroranschläge gegen zivile Ziele in Tschetschenien, dem benachbarten Dagestan und auch in Russland aus.

Normalisierung oder Gewaltherrschaft?

Seit 2003 wird Tschetschenien von Moskau-treuen Präsidenten beziehungsweise Republik-Chefs regiert. Verwaltungschef Achmat Kadyrow starb 2004 bei einem Bombenanschlag. Seitdem regiert dessen Sohn Ramsan Kadyrow, ein Gewaltherrscher, der seine Politik teilweise mit extralegalen Maßnahmen praktiziere, so Halbach.

Bekämpft wird Kadyrows Regierung von Rebellen, die für einen islamischen Gottesstaat im Nordkaukasus kämpfen. Aber Kadyrow hat nicht nur Gegner. Er habe sogar in den letzten Jahren Zulauf gehabt, berichtet der russische Journalist und Kaukasusexperte von der Zeitung Wremja Nowostej, Iwan Suchow. So sei er in den letzten Jahren unter denjenigen, die einen islamistisch geprägten Staat ablehnten, geradezu zu einer Symbolfigur der tschetschenischen Idee geworden. "Als derjenige, der die tschetschenischen ethnischen Interessen verteidigte. Deswegen hatten sich viele, die für die tschetschenische Sache, die tschetschenische Freiheit und tschetschenische Unabhängigkeit von Russland kämpfen, ihm angeschlossen."

Ramsan Kadyrow sistet seinen Eid als Präsident am 05.04.2007 ab (Foto: AP)
Ramsan Kadyrow - geschickter Taktiker der MachtBild: AP

Andererseits ist es auch in der Widerstandsbewegung zu einer Spaltung gekommen. Der Russlandexperte vom Innsbrucker Institut für Politikwissenschaften Gerhard Mangott berichtet, drei führende Funktionäre tschetschenischer Rebellen hätten erklärt, dass sie die Idee eines Emirats, welches die islamistischen Rebellen fordern, nicht mehr länger unterstützten. Allerdings hätten sie sich auch nicht Kadyrow angeschlossen, sondern würden nun wieder zurückkehren wollen zu einer ethnisch-nationalistischen Variante des Widerstandes.

Wie einig sind die Rebellen?

Es sei daher "durchaus wahrscheinlich, dass sich diese Gruppe, die sich von [dem ehemals islamistischen Führer] Doku Umarow abgespalten hat, diese heutige Attacke gestartet hat." Damit wolle sie möglicherweise zeigen "welche Fähigkeiten sie hat, im Zentrum der Macht des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow einen massiven Anschlag zu verüben."

Auch Mangott sieht eine deutliche Zunahme der Rebellenaktivität in den letzten Monaten sowohl in Tschetschenien als auch in Dagestan und Inguschetien. Offensichtlich sei bislang jeder Versuch der russischen Zentralregierung, die Region zu stabilisieren, fehlgeschlagen. Weder sei es gelungen, die Rebellenbewegung militärisch zu zerschlagen, noch über Geheimdienste, deren führende Mitglieder auszuschalten. Auch die Bemühungen des neuen Bevollmächtigten des Präsidenten im Föderalen Bezirk Süden, Aleksandr Chloponin, über eine Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage die Unterstützung für die islamistischen Rebellen auszutrocknen, bringe nicht die gewünschten Ergebnisse.

Prof. Dr. Gerhard Mangott, Russlandexperte am Innsbrucker Institut für Politikwissenschaften (Foto: Mangott)
Mangott sieht Spaltungstendenzen unter den RebellenBild: Gerhard Mangott

Mittlerweile erkenne sogar Präsident Dmitrij Medwedew, dass militärische und nachrichtendienstliche Operationen nicht mit der Brutalität gegen Unschuldige und Unbeteiligte ausgeübt werden sollten wie bisher, "weil dadurch den Rebellen neuer Zulauf gesichert ist". Dies habe die russische Seite auch als "maßgebliche Notwendigkeit" erkannt.

Politikwechsel nötig?

Halbach meint, die bisherige Politik im Nordkaukasus sei bisher vor allem eine "Politik des gewaltsamen Zugreifens" gewesen. Nötig seien aber auch Entwicklungsstrategien, die auf die Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme abzielten. Die EU sollte Russland dabei unterstützen, "sich auf eine neue Kaukasusstrategie zu besinnen, und Russland dazu ermuntern, von der alleinigen Politik des harten Durchgreifens abzukehren und etwas neues auf den Weg zu bringen."

Allerdings habe Russland den Nordkaukasus bislang zur inneren Angelegenheit deklariert und der internationalen Entwicklungs- und Friedenspolitik in dieser Region so gut wie keinen Zugang ermöglicht.

Deshalb müsse "ein Dialog zwischen der EU und Russland stattfinden über diese bedenkliche Sicherheitslage". Der Konflikt betreffe auch andere Staaten. "Das ist eine Region am Rande Europas, und es hat Europa schon zu interessieren, ob wir hier in den nächsten Jahren mit einer stetig weiteren Gewaltzunahme zu rechnen haben, oder ob es gelingt, das einzudämmen", so der Experte.

Autor: Markian Ostaptschuk
Die Interviews führten Olga Kapustina und Jegor Winogradow
Redaktion: Fabian Schmidt