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"Dynamit für Peking"

11. Oktober 2010

Die Vergabe des Friedensnobelpreises an den inhaftierten chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo beschäftigt auch an diesem Montag (11.10.) die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen.

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Titelseiten diverser Tageszeitungen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Frankfurter Rundschau: "Grenzen der Zensur"

"Der Friedensnobelpreis für den inhaftierten Demokratieaktivisten Liu Xiaobo stellt Chinas Propagandaapparat vor neue Herausforderungen. (...) Für die überwiegende Mehrheit der Chinesen ist Liu ein unbeschriebenes Blatt. Wie können die Medien dem Volk überzeugend erklären, dass böse ausländische Mächte sich mit einem inhaftierten Schriftsteller verbündet haben, von dessen Existenz seine eigenen Landsleute nie gehört haben? Und wie wollen sie verhindern, dass die Menschen im Internet Informationen finden, die womöglich überzeugender sind als die offizielle Darstellung? Keine Zensur kann verhindern, dass Liu Xiaobos Bekanntheitsgrad in China durch den Nobelpreis rapide zunehmen wird. Die Mauer des Schweigens kann nicht halten."

die tageszeitung, Berlin: "Jetzt ist Mut von Peking gefragt"

"Politiker aus aller Welt loben die Ehrung des chinesischen Bürgerrechtlers Liu Xiaobo, während Peking sich mit seiner beleidigten Reaktion lächerlich macht: Ein Chinese bekommt den Friedensnobelpreis - Chinas Regierung protestiert. (...) Die Zeit der ehrlosen Selbstzensur von westlichen Politikern mit Rücksicht auf chinesische Milliardengeschäfte muss jetzt vorbei sein. In einem Monat, genau zwischen Bekanntgabe und Vergabe des Friedensnobelpreises, tritt in Südkorea der nächste G-20-Gipfel zusammen, Frankreich wird den Vorsitz übernehmen. Wie wäre es, wenn Europa diesen Gipfel boykottierte, sollte Liu bis dahin nicht frei sein? Man darf ja wohl mal träumen. Oslo hat schon einen Teil des Traumes Wirklichkeit werden lassen."

Süddeutsche Zeitung, München: "Dynamit für Peking"

"Er saß unschuldig in seiner Gefängniszelle, zwangsläufig gequält von dem Gedanken, ob ihn die Welt vergessen hat. In dieser Lage hat der Chinese Liu Xiaobo den Friedensnobelpreis erhalten. Jenseits aller Politik und aller wichtigen Fragen, was dies nun für China bedeuten mag, ist diese Entscheidung zunächst einmal ein Akt der Menschlichkeit. Welch eine Ermutigung für diesen Mann, der schon nach zwei von elf Jahren seiner Gefängnisstrafe deutlich abgemagert ist! Auch die zweite Botschaft dieser Preisvergabe, mit der das Nobel-Komitee nach mehreren Fehlgriffen an seine nobelsten Traditionen anknüpft, ist universell und zeitlos: Niemand sollte allein aufgrund seiner politischen Überzeugungen in Unfreiheit leben. Kein Carl von Ossietzky, der denselben Preis erhielt, als er schwer krank unter der Bewachung der Gestapo stand, keine Aung San Suu Kyi, kein Chinese, niemand. Für Chinas Führung ist dieser Friedensnobelpreis darüber hinaus hochpolitisch und gefährlich. Denn er ist eine Ermutigung für alle oppositionellen Kräfte in der Volksrepublik, denen es bislang an einer einigenden Führungsfigur gefehlt hat. Das Prestige eines Nobelpreises wirkt auch in der Volksrepublik."

Neue Osnabrücker Zeitung: "Das Ende der Bescheidenheit"

"Im Westen wird gejubelt, in chinesischen Medien wird der Nobelpreis totgeschwiegen. Die Frau des Geehrten sitzt wenige Meter von der wartenden Weltpresse entfernt, eingesperrt in ihrer Wohnung. China droht Norwegen mit Konsequenzen, es hatte davor gewarnt, den Preis diesem "Kriminellen" zu geben. Jetzt beeilt sich der norwegische Außenminister zu betonen, dass das Nobelkomitee unabhängig von der Regierung in Oslo entschieden hat - er möchte die guten Handelsbeziehungen nicht gefährden. Das alles unterstreicht die enorme Bedeutung des Nobelpreises. Und erzählt gleichzeitig von einem ungelösten Problem der westlichen Welt: Sie will wirtschaftlich von China profitieren. Deshalb kommt ihre Kritik am dortigen Umgang mit den Menschenrechten meist so bescheiden daher, dass die Kritisierten sie ohne Gesichtsverlust weglächeln können. Der Nobelpreis ist das Gegenteil von bescheiden. Er setzt die Offiziellen in China unter Druck, ermutigt Menschenrechtsaktivisten weltweit - und ermahnt den Westen, mitten im China-Boom die Verfolgten nicht zu vergessen."

zusammengestellt von Esther Broders
Redaktion: Thomas Kohlmann