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Spielball der Politik

4. Oktober 2010

Die irakischen Christen kämpfen um ihr Überleben. Zwar gesteht ihnen die neue kurdische Verfassung kulturelle Autonomie zu - in Wirklichkeit aber sind sie zur Auswanderung gezwungen.

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Pater Bashar Warda vor der Sommerresidenz des Chaldäischen Patriarchats (Foto: DW/Mona Naggar)
Pater Bashar Warda vor der Sommerresidenz des Chaldäischen PatriarchatsBild: Mona Naggar

Die Mar Youhanna-Kirche ist gut gefüllt. Ungefähr 200 Männer, Frauen und Kinder sitzen auf Holzbänken und lauschen der auf aramäisch gehaltenen Messe. Der Altarraum ist mit Marmor ausgekleidet. Im Hintergrund hängt ein großes Kreuz. Das Gotteshaus, nach Johannes dem Täufer benannt, liegt in Einkawa, einer kleinen Stadt wenige Kilometer von Erbil, der Hauptstadt der Region "Irakisch-Kurdistan", entfernt. Auffällig sind die vielen Kirchen in der Stadt. Einkawa wirkt wie ein Mikrokosmos des christlichen Lebens im Zweistromland. Alle Konfessionen der stark zersplitterten orientalisch-christlichen Kirchen sind hier vertreten.

Priesterseminar auf der Flucht

Die Mar Youhanna-Kirche in Erbil (Foto:DW/Mona Naggar)
Die Mar Youhanna-Kirche in ErbilBild: Mona Nagger

Etwas außerhalb der Stadt liegt die Sommerresidenz des Patriarchats der Chaldäischen Kirche. Sie beherbergt auch das chaldäische Priesterseminar, das erst vor kurzem nach Norden verlegt wurde. Die Entführung von Priestern und Mitgliedern des Verwaltungsrates in Bagdad stellte die Verantwortlichen des Seminars vor eine schwierige Entscheidung: entweder die Hochschule schließen oder an einen anderen Ort innerhalb des Irak verlegen, erzählt Pater Bashar Ward, Leiter des Seminars. Die Wahl fiel schließlich auf den alten chaldäischen Ort Einkawa, in dem bereits die Sommerresidenz des Patriarchats steht.

Über die Zahl der Christen im Irak gibt es keine verlässlichen Angaben, auch nicht über die Opfer der Gewaltakte der letzten Jahre. Die Organisation "Gesellschaft für bedrohte Völker" schätzt, dass zum Ende der Baath-Herrschaft rund 650.000 Iraker christlichen Glaubens im Zweistromland lebten. Die Hälfte von ihnen soll in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen haben.

Aziz Al-Zebari musste vor fünf Jahren aus seiner Heimatstadt Mosul fortgehen. Heute lebt er in Einkawa und unterrichtet an der Universität von Erbil Pädagogik. Zebari schildert, dass er mit eigenen Augen gesehen habe, wie in Mosul innerhalb von drei Tagen 30 christliche Familien vertrieben wurden: "Maskierte gingen durch die Straßen und haben über Lautsprecher gerufen: Ungläubige verschwindet! Sie haben es geschafft, Angst und Schrecken zu verbreiten. Viele Familien flüchteten nach Kurdistan."

Diese Erfahrungen haben Aziz Al-Zebari dazu gebracht, heute die Schaffung eines autonomen Gebietes für die Christen zu fordern: "Um unsere physische und kulturelle Existenz zu sichern, brauchen wir ein politisches Gebilde innerhalb des irakischen Staates." Er fordert eine Selbstverwaltung in den Gebieten, wo nach seiner Meinung die Christen die Mehrheit ausmachen: "Das wäre in einigen Regionen im Nordirak und in der Niniveh-Ebene der Fall. Dort wären wir sicher, könnten unsere Religion in Frieden praktizieren und unsere Sprache pflegen." Al-Zebari beruft sich bei seiner Forderung auch auf die neue kurdische Verfassung, die in Artikel 35 dieses Recht vorsieht.

Verfassung verbrieft Rechte

Irakische Christen bei einem Sonntagsgebet in einer Kirche in Bagdad (Foto:ap)
Irakische Christen bei einem Sonntagsgebet in einer Kirche in BagdadBild: AP

Al-Zebari ist Mitglied des "Chaldäisch-Syrisch-Assyrischen Volksrates". Der Volksrat steht der Kurdisch-Demokratischen Partei KDP nahe. Ihr Gründer und derzeitiger Chef Sarkis Aghajan war viele Jahre Wirtschafts- und Finanzminister der kurdischen Regierung in Erbil. Er macht sich für die Schaffung eines autonomen christlichen Gebietes unter kurdischem Schutz stark.

Dieses Konzept ist unter den christlichen Irakern allerdings höchst umstritten. Zu den Kritikern des Volksrates gehört die Ende der 70er Jahre gegründete "Assyrische Demokratische Bewegung". Nizar Hanna leitet das Parteibüro in Einkawa. Auch er setzt sich für mehr Rechte und eine kommunale Selbstverwaltung ein, allerdings in Abstimmung mit der Zentralregierung in Bagdad. Er bemängelt, dass es bis jetzt keine konkreten Pläne gebe, die zeigen, wie eine Autonomie funktionieren soll. In der kurdischen Verfassung haben zwar die Christen das Recht bekommen, in den Gebieten, in denen sie die Mehrheit bilden, eine Autonomie zu schaffen. Aber Hanna weist darauf hin, dass dies nirgends der Fall sei: "Wir vergessen, dass es sich nicht um zusammenhängende Gebiete handelt, in denen nur Christen leben. Es leben dort auch Shabak, Yazidis, Kurden und Araber."

Flucht in den Norden

Die katholisch-chaldäische Kirche in Einkawa (Foto: DW/Mona Naggar)
Die katholisch-chaldäische Kirche in EinkawaBild: Mona Nagger

Die christlichen Iraker befinden sich heute in einem Dilemma. Einerseits hat sich die Regierung in Bagdad unfähig gezeigt, sie zu beschützen, und die Morde, die gegen sie begangen wurden, aufzuklären. In den kurdischen Gebieten werden sie mit offenen Armen empfangen, finanziell unterstützt und ermutigt, eine Autonomie zu fordern. Andererseits befürchten viele, zum Spielball zwischen Arabern und Kurden zu werden. Außerdem ist die Angst groß, wegen eigener politischer Ambitionen erst recht zur Zielscheibe nationalistischer und religiöser Fanatiker zu werden.

Unabhängig davon, wie die innerchristliche Debatte um Autonomie ausgehen wird: Die Flucht der Christen aus allen Teilen des Irak in den Norden hat neue demographische Fakten geschaffen. Pater Bashar Warda berichtet, dass Flüchtlinge aus Bagdad oder Mosul zwar noch mit großer Sehnsucht von ihren früheren Heimatstädten erzählen, der instabilen Lage dort aber müde geworden seien. Immer mehr christliche Iraker würden sich dauerhaft im Nordirak ansiedeln und dort Häuser und Grundstücke kaufen.

Autorin: Mona Naggar
Redaktion: Thomas Latschan/Daniel Scheschkewitz