1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

José Antonio Abreu im Gespräch

20. September 2010

Er ist ein Mann mit besonderen Qualitäten: José Antonio Abreu, der Schirmherr des Beethovenfestes 2010. Im DW-Interview spricht er über seine Arbeit und über den Erfolg seines legendären musikalischen Ausbildungssystems.

https://p.dw.com/p/PB7V
Jose Antonio Abreu im Gespräch mit Rick Fulker, DW. Foto DW/Per Henriksen
Jose Antonio Abreu (r.) im Gespräch mit Rick Fulker (DW)Bild: DW

Unter der Führung von José Antonio Abreu entstand vor drei Jahrzehnten in Venezuela ein System der musikalischen Ausbildung für sozial benachteiligte Kinder, genannt "El Sistema". Das inzwischen weltweit anerkannte Ausbildungssystem hat nicht nur die soziale Lage hunderttausender Kinder des Landes verbessert, sondern auch Orchester und Dirigenten von Weltniveau hervorgebracht. Abreu - Komponist, Ökonom, Politiker, Erzieher und Aktivist - gilt als Inspirationsfigur und Visionär. Für Ilona Schmiel, Intendantin des Beethovenfestes, verkörpert er das diesjährige Festivalmotto "Utopie und Freiheit in der Musik" wie kein anderer. Abreu erzählte der Deutschen Welle von den Anfängen und der Zukunft des "Sistema", das inzwischen auch in anderen Ländern Schule gemacht hat.

DW-WORLD.DE: Was war damals die Initialidee, was waren die ersten Erfahrungen mit "El Sistema"?

Jose Antonio Abreu. Foto DW/Per Henriksen
"Der Kampf gegen Widerstände ist unvermeidlich", sagt AbreuBild: DW

José Antonio Abreu: Als Erstes ging es uns darum, die Musikerziehung in Venezuela anzutreiben und eine Plattform für Kinder und Jugendliche zu schaffen, damit sie gemeinschaftlich arbeiten und musizieren können. "Zusammen musizieren" bedeutet, dass im Orchester eine kleine Gemeinschaft oder Gesellschaft entsteht. Eine Gesellschaft, die durch hehre Ziele inspiriert wird. Man sollte in der Lage sein, sich mit anderen musikalischen Gemeinschaften und Orchestern aus verschiedenen Städten verbinden zu können. Dies haben wir in den jeweiligen Hauptstädten der 24 Bundesstaaten Venezuelas erreicht. Zu uns kommen so viele Kinder zur Musik wie es normalerweise nur im Sport üblich ist. Zurzeit haben wir 350.000 Kinder und Jugendliche im ganzen Land eingespannt. Das heißt also, dass wir rund 300.000 venezolanische Familien in der Bewegung eingeschlossen haben. Das Kind wird zum Vorbild für sein Zuhause, dann für seine Nachbarschaft und letztlich auch für seine Gemeinschaft. Deshalb ist dieses Projekt so sozial.

Musizieren und Kämpfen

Wie haben Sie es geschafft, Kinder aus den schwierigsten Verhältnissen in ein Orchestergefüge hinein zu bekommen, aus Umgebungen, in denen Gewalt vorherrscht oder in denen Eltern und Nachbarn keine Zeit haben, weil sie arbeiten müssen um die Familie ernähren zu können?

Man muss sehr viele Barrieren überwinden. Aber dieser Kampf ist unvermeidlich. Deshalb ist unser Motto: "Musizieren und Kämpfen". Wir müssen geistig stark, stetig und entschlossen sein, damit unsere jungen Dirigenten und Maestros die Verantwortung übernehmen und sich nicht einschüchtern lassen. Dazu braucht man auch die Beteiligung des Staates, der dieses Grundrecht seinen jüngsten Bürgern gewährt.

Seit 2004 tritt jedes Jahr ein Jugendorchester aus Venezuela beim Beethovenfest auf. Wie kam der Kontakt zustande?

Die Intendantin des Beethovenfests ist mit uns in Kontakt getreten, hat die Art und Wirkung unserer Arbeit verstanden und hat das Beethovenfest für Venezuela geöffnet.

Welche Früchte trug diese Zusammenarbeit?

Der venezolanische Dirigent Gustavo Dudamel
Start-Dirigent Gustavo DudamelBild: AP

Damals konnte unser junger und herausragender Dirigent Gustavo Dudamel gerade seine außergewöhnliche Laufbahn antreten. Sein Dirigat hier war sein internationales Debüt. Claudio Abbado, als künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker, hat danach in Caracas dirigiert und eine Probe unseres Orchesters gehört. Er lud das Orchester ein in der Berliner Philharmonie zu spielen. Abbado rief dann eine Schirmherrschaft ins Leben sowie einen ständigen Austausch zwischen dem venezolanischen Jugend-Sinfonieorchester und den Berliner Philharmonikern. Seitdem besuchen herausragende Dirigenten das ganze Jahr hindurch unser Land und geben "Master Classes".

Das Orchester mit dem Herz in Bonn

Gibt es weitere Verbindungen zur Beethovenstadt Bonn?

Als unser Orchester zum ersten Mal in Deutschland war, durften wir das Beethoven-Haus besuchen. Dies war eine emotionale, intellektuelle und künstlerische Erfahrung, die man gar nicht in Worte fassen kann. Man kann also sagen, dass das Orchester sein Herz auch in Bonn hat. Jetzt kommt eine zweite, neue Generation, das Terésa Careno Sinfonieorchester. Die Musikerinnen und Musiker, die ein Durchschnittsalter von 15 Jahren haben, werden beim diesjährigen Beethovenfest am 28. September auftreten.

Das Geburtshaus Beethovens in Bonn
Das Geburtszimmer im Beethovenhaus - hier wurde der große Komponist geborenBild: Juergen Gregori, Rheinisches Amt fuer Denkmalpflege

Das Modell, das Sie uns vorgestellt haben, hat Schule gemacht. Welche Kernprinzipien von "El Sistema" sind unverzichtbar?

Also, es muss jeden Tag im Orchester musiziert werden. Zweitens muss das Orchester, das hierbei entsteht, über sich hinauswachsen. Für uns bedeutet dies, dass der nationale Stolz zum Ausdruck gebracht wird, im Sinne des eigenen Selbstwertgefühls. Drittens: Wenn man so ein massives musikalisches Ausbildungssystem einrichtet, läuft man Gefahr, dass die Masse die Qualität neutralisiert. Dies kann man nur verhindern, wenn man wirklich seine ganze Kraft auf Erzielung der Qualität setzt. Dazu ist es notwendig, sich dem internationalen Vergleich zu stellen.

Das Sistema in Venezuela hat auch in anderen Ländern Schule gemacht, zum Beispiel auch beim Heliópolis-Ensemble aus Brasilien, das im Rahmen des DW-Orchestercampus in Bonn auftreten wird. Kennen Sie dieses Ensemble?

Jose Antonio Abreu im Gespräch mit Rick Fulker, DW. Foto DW/Per Henriksen
Er arbeitet immer weiter: José Antonio AbreuBild: DW

Das Orchester Heliópolis ist ein sehr verdienstvolles Orchester, das ebenfalls eine sehr starke soziale Komponente hat. Wir kennen auch einige Maestros, die mit diesem Orchester zusammenarbeiten oder daraus entstanden sind und schätzen sie sehr.  

Was ist mit den Musikern, die nicht bis an die Spitze gekommen sind? Wird dennoch im Sinne des sozialen Wandels etwas erreicht?

Langzeitstudien berichten, dass ein Kind, das Mitglied in einem Orchester ist, automatisch besser in der Schule wird. Ferner: In den Städten, wo eines unserer Orchester sitzt, gibt es nachweislich weniger Gewalt- und Drogenmissbrauch.

"El Sistema" macht Schule

Wie geht es nun weiter mit "El Sistema"? Welche Ziele haben sie sich gesetzt?

Es sollen immer mehr Kinder in der Welt die Möglichkeit einer musikalischen Ausbildung erhalten. In Lateinamerika, der Karibik, Spanien und Portugal haben wir ein gemeinsames Orchester gegründet, das diese Länder auf dem gemeinsamen lateinamerikanischen und iberoamerikanischen Gipfel vertreten kann. Es hat den Namen: "Der iberoamerikanische musikalische Raum". Als nächster Schritt kommt die Schaffung des iberoamerikanischen Chores. Daraufhin wird es regelmäßige Treffen mit den Jugendorchestern Europas, Asiens und Australiens geben, oder auch mit jungen Orchestern aus Ägypten, Kenia, Namibia und Südafrika.

Interview: Rick Fulker
Übersetzung und Transkription: Tomás Gilgenmann Lorza
Redaktion: Petra Lambeck