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Die Suche nach Fernando Lalinde

6. September 2010

Luis Fernando Lalinde verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen. Seine Mutter Fabiola gab die Suche trotzdem nicht auf und geriet in ein gefährliches Verwirrspiel des kolumbianischen Militärs.

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Fabiola Lalinde - seit 1984 kämpft sie für Gerechtigkeit für den Mord und das gewaltsame "Verschwinden-lassen" ihres Sohnes Fernando Lalinde. Fotograf: Anne Herrberg Ort/Zeit: Medellín, Kolumbien / Januar 2010
Operation Cirirí - Fabiola Lalinde in ihrer Wohnung in MedellínBild: DW/Anne Herrberg

In Zentralkolumbien, in der fruchtbaren und immergrünen Kaffeezone, lebt ein kleiner Vogel: Man nennt ihn den Cirirí. Er ist so klein wie ein Kolibri und so flink, aber er verfolgt große Raubvögel. Die Sperber zum Beispiel, wenn sie die jungen Küken auf dem Hof der Familie Lalinde angegriffen haben: "Mein Vater nannte mich auch immer Cirirí, weil ich so hartnäckig und ausdauernd war", erzählt Fabiola Lalinde. Heute ist sie Mitte 70 und lebt in Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens. Von dort aus arbeitet sie an ihrer ganz persönlichen "Operation Cirirí": der Suche nach den Mördern ihres Sohnes Luis Fernando, der am 18.4.1984 spurlos verschwunden ist.

Kolibri (Quelle: AP)
Der Cirirí gehört zur Familie der KolibrisBild: AP

Das machte sie zu einer der wichtigsten Friedenskämpferinnen ihres Landes. Und zu einer Gefahr für die Regierung, die sie zwischenzeitlich als dicken Fisch im Drogenhandel verhaften und ins Gefängnis stecken ließ. "Es hieß, ich sei Mitglied des Kartells von Pablo Escobar und würde in meinem Haus hochwertiges Koks herstellen." Die Entrüstung steht ihr ins Gesicht geschrieben: "Mir könnten sie Mehl als Koks verkaufen! Was mich am meisten ärgerte, dass sie wohl dachten, ich sei blöd!“

"Auch Jesus hätten sie als Marxist verfolgt!"

Fabiola Lalinde ist weder Terroristin, noch arbeitet sie für die Mafia: Sie ist in erster Linie eine Mutter, die Gerechtigkeit für den Mord an ihrem Sohn Luis Fernando fordert, für dessen Tod und Verschwindenlassen, für das das kolumbianische Militär verantwortlich ist. "Luis Fernando war ein intelligenter und ein guter Junge", erzählt Fabiola. Einer, der sich für die Rechte der Armen in den Elendsvierteln einsetzte und deswegen in die marxistische Jugendbewegung eintrat.

Doch er sei "mehr Christ als Marxist" gewesen, Anhänger der Befreiungstheologie. "Einmal sagte er mir: Mama, wenn Jesus nach Marx geboren wäre, dann hätte ihn die katholische Kirche später sicher als Marxisten verfolgt". Fabiola lacht kurz auf, es ist ein bitteres Lachen.

Kommunistische Bedrohung

25 Jahre Straflosigkeit - Gedenken an Fernando Lalinde, das Foto zeigt ihn, damals 26 Jahre, bei einer Demonstration der marxistischen Jugendbewegung, es ist das letzte Foto, das Fabiola von ihm hat. Fotograf: Anne Herrberg Ort/Zeit: Medellín, Kolumbien / Januar 2010
Kampf gegen die Straflosigkeit - das letzte Foto von Fernando LalindeBild: DW

Seit den 60er Jahren herrscht in Kolumbien Bürgerkrieg. Doch nicht alle, die sich für eine gerechtere Verteilung des Reichtums einsetzen, schließen sich der marxistischen Guerilla an. Unter Generalverdacht stehen sie trotzdem, wie überall in Lateinamerika, wo im Zuge der US-amerikanischen "Rollback-Politik" die "Kommunistische Bedrohung" beschworen wird.

Schon 1962 gibt eine Mission aus der US-Kriegsschule Fort Bragg eine Empfehlung an die kolumbianische Regierung: Aus Zivilisten und Militärs zusammengesetzte Gruppen sollen gebildet werden, um die Sympathisanten des Kommunismus zu bekämpfen und "um paramilitärische terroristische Aktivitäten durchzuführen".

1978 wird ein entsprechendes "Sicherheitsstatut" erlassen, das die staatlichen Repressionsinstrumente erweitert und gezielt den Aufbau paramilitärischer Todesschwadronen anregt. Den alteingesessenen Eliten – Landoligarchie, Militär, katholische Kirche - kommt das gerade recht.

"Verschwundene gab es hier noch nicht"

Der 26-Jährige Luis Fernando lehnt jede Gewalt ab, mehr noch, er engagiert sich in den ersten Friedensverhandlungen, die der damalige Präsident Belisario Betancur ab 1982 mit den wichtigsten Guerillagruppen des Landes eingeleitet hat. Doch am 18. November 1984 kehrt Luis Fernando nicht aus einem internationalen Friedenscamp zurück. Schlimmes vermutete seine Mutter erst einmal nicht. Doch dann hört sie, dass es nahe des Camps zu Kampfhandlungen gekommen war. Nach drei, vier Tagen wird sie unruhig, bekommt seltsame Träume, denn von Luis Fernando fehlt jede Spur. "Dass Menschen einfach verschwinden, das hatte man aus Chile oder Argentinien gehört, aber nicht aus Kolumbien!", erinnert sie sich.

Fatigue-clad police stand guard over a group of men detained during anti-government demonstrations in Buenos Aires, March 30, 1982. The protest, despite being repressed, was the largest since th miltary took power in 1976. (AP Photo/Eduardo DiBaia)
1980er Jahre: In fast allen Ländern Lateinamerikas haben Militärs die Macht übernommen - wie hier in Argentinien, wo die Junta schätzungsweise 30.000 Menschen verschwinden ließ.Bild: AP

Hier beginnt Fabiolas Operatión Cirirí, die zeigt, dass es in Kolumbien keine Militärdiktatur braucht, um ähnlich grausame Verbrechen wie in Argentinien oder Chile zu begehen. Mit Hilfe zweier Menschenrechtsanwälte bekommt Fabiola heraus, dass ihr Sohn einem Verwundeten geholfen hatte, daraufhin von Militärs gefoltert und schließlich verschleppt worden ist. Es gibt dafür zehn Zeugen, die ihre Aussagen sogar notariell bestätigen lassen. Doch der Festgenommene taucht in keiner Akte auf. Er wird einer von Kolumbiens ersten Verschwundenen. Mittlerweile, so schätzen Menschenrechtsorganisationen, sind es 50.000 geworden. Dass Luis Fernandos Fall heute einer der wenigen ist, der 2.500 Seiten und 23 Kilo Aktenpapier füllt, ist Fabiolas Verdienst.

Allein gegen den kolumbianischen Staat

Ihre 50 Quadratmeter große Wohnung ist bis unter die Decke vollgestopft, mit Ordnen, Nachschlagewerken, Briefen. "Das habe ich bei meiner Arbeit als Sekretärin im Supermarkt gelernt", erklärt sie. "Lass dir jeden Schritt quittieren, sammle alle Beweise, sonst glaubt dir niemand." Die Militärs tun alles, um Spuren zu verwischen. Und versuchen alles, um Fabiola einzuschüchtern und von ihrer Suche abzubringen. Sie erreichen damit allerdings das genaue Gegenteil.

Fabiola Lalinde beim Telefonieren in ihrer Wohnung, im Vordergrund Namenschilder von Kongressen, auf denen Fabiola eingeladen war. Fotograf: Anne Herrberg Ort/Zeit: Medellín, Kolumbien / Januar 2010
Fabiola, die Kämpferin - heute unterstützt sie andere OpferBild: DW/Anne Herrberg

Schritt für Schritt nähert sich Fabiola der Wahrheit – und gerät in ein gefährliches Verwirrspiel der Militärs. Acht Jahre leugnen die jede Verantwortung ab, widersprechen sich selbst, lassen Beweise und Akten verschwinden. Fabiola wird Mitbegründerin der lokalen Medellín-Sektion von ASFADDES, der ältesten Organisation von Angehörigen der Opfer von Staatsverbrechen. Sie zieht vor die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die den kolumbianischen Staat erstmals in dessen Geschichte für ein Menschenrechtsverbrechen verantwortlich macht. Daraufhin findet das Militär zwei Kilo Kokain in Fabiolas Haus.

Fabiola, die Narco-Braut?

"Wäre ich Terroristin oder Drogenhändlerin gewesen, hätte die OAS ihre Resolution zurückziehen müssen", erklärt Fabiola. Doch nach dreizehn Tagen "Hotel Staat", wie Fabiola das Gefängnis nennt, kommt sie auf Druck von Menschenrechtsorganisationen wieder frei. Und die OAS erreicht schließlich doch, dass der Staat handelt. Plötzlich gibt es Hinweise auf ein anonymes Grab. Eine Exhumierung wird angeordnet. Man findet Knochen, der Schädel aber ist abgetrennt worden und separat, ein Stück bergauf, versteckt worden. Vorderzähne, Knochenverknorpelungen, Fingerkuppen fehlen – alles, was den Forensikern nutzen könnte, um die sterblichen Überreste zu identifizieren.

Hilfe von Dr. Snow

Mittlerweile hat Fabiola weitere internationale Unterstützung gewonnen. Darunter Dr. Clyde Snow, ein US-amerikanischer Anthropologe, der schon den argentinischen "Müttern der Plaza de Mayo" bei ihrer Suche nach den von der Militärjunta Verschwundenen geholfen hatte. Trotzdem: Die Identifizierung der sterblichen Überreste wird noch vier Jahre dauern. "Die erste Untersuchung durch staatliche Behörden behauptete schwarz auf weiß, die Reste gehörten nicht zu meinem Sohn." Gemeinsam mit Dr. Snow reist Fabiola in die USA, um einen DNS-Test zu machen. "Der bewies dann eindeutig: Es war Luis Fernando, auch wenn sie das mit allen Mittel zu verschleiern suchten."

Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Madres de la PLaza de Mayo in Buenos Aires, 2005, dpa
Vorbild und Solidarität - die "Mütter der Plaza de Mayo" aus ArgentinienBild: AP

Der Beweis geht auf dem Postweg verloren, der zuständige Militäranwalt geht in den Ruhestand. Fabiola startet eine Medienkampagne: "Ich bin vielleicht doch ein seltsamer Vogel", sie streckt den Kopf etwas vor und schaut herausfordernd. Ihre Schwester stirbt während der Suche nach Luis Fernando an Krebs. Zwei der Menschenrechtler, die sie unterstützen, werden ermordet. "Mir gibt die Wut Kraft!“, sagt Fabiola.

Operation Cirirí geht weiter

Erinnerung an die Abwesenden - ein Denkmal auf einem Seminar mit Opfern in Medellin Beide Aufnahmen sind von: Anne Herrberg gemacht 1) am 25.11.2009 in Bogotá, Kolumbien und 2) 7. 12.2009, in Medellin, Kolumbien
Erinnerung an die Abwesenden - Denkmal in MedellínBild: DW

Am 16. November 1996, 4.428 Tage nach dem Mord erhält Fabiola schließlich einen Pappkarton mit den Knochen ihres Sohnes. Ein Moment, den Fabiola auch heute noch nicht mit Worten beschreiben kann. Sie starrt einige Sekunden auf die Regalbretter voller Papier. "Diese Suche hat mein ganzes Leben verändert", sagt sie dann. "Man ist erst tot, wenn man vergessen wird", steht auf einem Flyer unter dem letzten Foto, das Fabiola von ihrem damals 26-jährigen Sohn besitzt. Ihre Operation Cirirí ist noch nicht zu Ende. Bisher wurde noch niemand für den Mord an ihrem Sohn zur Verantwortung gezogen. Und auch heute noch begeht der Staat Verbrechen, herrscht Straflosigkeit.

Erst kürzlich kam der Skandal der "Falschen Positiven" ans Licht: Das kolumbianische Militär hatte zwischen 2005 und 2007 mehr als 2.000 Zivilisten ermordet und als gefallene Guerilleros ausgegeben. "Wir brauchen Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen", sagt Fabiola. "Ich bin es Luis Fernando schuldig, andere Opfern bei ihrer Suche zu unterstützen."

Autorin: Anne Herrberg
Redaktion: Thomas Kohlmann