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Begegnung mit Dieter Forte

14. Juni 2010

Erzählen vom Bunkerleben in einer bombadierten deutschen Großstadt war lange Zeit tabu. Fortes "Tetralogie der Erinnerung" gehört zu den eindringlichsten Romanen über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit.

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Der deutsche Schriftsteller Dieter Forte (Foto: dpa)
Der deutsche Schriftsteller Dieter ForteBild: picture-alliance / dpa

Gesehen haben wir uns nicht während unseres Gesprächs, denn wir saßen viele Kilometer voneinander entfernt mit Kopfhörern auf den Ohren in zwei verschiedenen Hörfunkstudios. Ich wohne in der Nähe von Dieter Fortes Geburtsstadt Düsseldorf, er in Basel, wo er seit 1971 lebt. Obwohl er gesundheitlich schwer angeschlagen ist, hat er sich für das Interview zum Schweizer Rundfunk begeben. Dieter Forte hat ein chronisches Lungenleiden, seit seiner Kindheit, ein Kriegsschaden, wenn man so will, weil es damals keine Medikamente gab. Den körperlichen und seelischen Wunden des Krieges hat sich der Schriftsteller intensiv, aber erst spät gewidmet. "Da muss man schon ein bisschen älter sein, sonst kann man das Thema nicht bewältigen", sagt er mit seiner leisen, leicht brüchigen Stimme. Energisch fügt er aber hinzu: "Meine ich!"

Welterfolg als Theaterautor

Bekannt geworden ist Dieter Forte als Dramatiker. Sein erstes Theaterstück "Martin Luther & Thomas Münzer oder die Erfindung der Buchhaltung" war sofort ein Welterfolg. Das Stück wurde 1970 uraufgeführt und traf damals den Nerv der Zeit: Im Zentrum stehen Religions- und Kapitalismuskritik, das kam bei der Studentenbewegung gut an. Dass das bürgerliche Publikum "Skandal" rief, förderte die Popularität des Autors nur. Aber der Erfolg hat ihm bis heute einen Stempel aufgedrückt. Auch wenn Dieter Forte für spätere Theaterstücke, Fernsehdrehbücher und Hörspiele zahlreiche Preise bekam, so sagen heute immer noch alle: "Dieter Forte? Ach, der Autor von Martin Luther & Thomas Münzer." Dass er nie wieder solch einen großen Erfolg hatte, nimmt Dieter Forte jedoch völlig gelassen: "Es ist so ein geglückter theatralischer Wurf, wie man ihn so – auch mit solcher Frechheit – wahrscheinlich nur einmal im Leben hinwirft."

Tabuthema Bombenkrieg

Der deutsche Schriftsteller Dieter Forte (Foto: dpa)
Schriftsteller Dieter ForteBild: picture-alliance / dpa

Trotzdem ist ihm noch einmal ein großer Wurf geglückt. Allerdings nicht als Theaterautor, sondern als Romancier. In den vergangenen 20 Jahren hat sich Dieter Forte auf ein großes Romanprojekt konzentriert, in dem er auf seine persönliche Lebensgeschichte zurückgreift. Die vier Bände der "Tetralogie der Erinnerung" werden zu seinem Geburtstag erstmals zusammen in einer Kassette herausgegeben. Vor allem Band zwei und Band drei haben Aufsehen erregt, denn hier hat Dieter Forte ein Thema aufgegriffen, das lange Zeit tabu war. Er erzählt von den Erlebnissen eines kleinen Jungen während der Bombenhagel, die im Zweiten Weltkrieg auf die deutschen Städte niedergingen. Die Bücher kamen Ende der 1990er Jahre genau zur rechten Zeit. Gerade hatten Psychologen entdeckt, dass viele ältere Menschen unter Depressionen litten, weil frühkindliche Kriegserlebnisse plötzlich hochkamen, über die sie nie gesprochen hatten. Auch Dieter Forte konnte darüber lange nicht reden: "Ich habe diese Sachen nicht mal meiner Frau erzählt, keinem Menschen."

Schüler schreiben an Dieter Forte

Vom Bunkerleben der Zivilbevölkerung einer Großstadt und vom Chaos in den Ruinen hat kein deutscher Schriftsteller bewegender erzählt als er. Aber er beschreibt auch den unbändigen Überlebenswillen und legt durchaus Situationskomik an den Tag. Dabei spielt das zweite Thema seiner "Tetralogie der Erinnerung" eine wichtige Rolle: Dieter Forte bettet die Kriegserlebnisse ein in eine große historische Erzählung vom langen Weg zweier Familien, die es von Italien und Polen in ein Düsseldorfer Arbeiterviertel verschlagen hat, wo sie sich durch Heirat verbinden. Diese historische Migrationsgeschichte ist immer noch aktuell, in ihr finden sich Schüler von heute wieder. Dieter Forte steht in engem Kontakt zu einer Gesamtschule in Düsseldorf, die seinen Namen trägt. Viele schreiben ihm, wie er erzählt: "Jeder Brief fängt so an: Ich komme aus dem Jemen. Ich komme aus Algerien." 60 Prozent der Schüler sind Einwandererkinder, in ihren Briefen erkennt Dieter Forte eine große Kraft: "Das ist unsere Zukunft, so geht’s weiter, das ist überhaupt der einzige Weg wahrscheinlich."

Autorin: Christel Wester

Redaktion: Gudrun Stegen