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Deutsche am Rio de la Plata

26. Mai 2010

Vor 200 Jahren, am 25. Mai 1810, stürzten die Kreolen in Buenos Aires den spanischen Vizekönig. Auf dem Weg zur Unabhängigkeit Argentiniens spielten Deutsche eine nicht unerhebliche Rolle.

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Bild: Ch. Links Verlag

"Mist und Fäkalien,

die einige nicht verdauten,

aßen einige aus Verzweiflung,

es war schrecklich…"

dichtet Ulrich ("Utz") Schmidl 1567 über Buenos Aires. Würde es sich dabei nicht um das erste Gedicht aus der Stadt am Rio de la Plata handeln, der Bayer Schmidl wäre wohl kaum in die Geschichte eingegangen. Als Landsknecht hatte sich der Straubinger unter Pedro de Mendoza nach Amerika eingeschifft, und war dabei als 1534 "Nuestra Señora Santa María de Buen Ayre" gegründet wurde. Doch die Hoffnung der Spanier, am Rio de la Plata, am Silberfluss, ebenjenes zu finden, erfüllte sich nicht – dafür gab es Elend, Pest, Mord und Totschlag, vor allem aber Hungersnot

In seinen Aufzeichnungen "Wahrhafftige Historien einer wunderbaren Schiffahrt" überliefert Schmidl ein anschauliches Bild davon: "Es begab sich, daß drei Spanier ein Roß entführten und dasselbige heimlich aßen; (…) Als sie nun solches bekannten, wurden sie zum Galgen verurteilt und gehenkt. In derselben Nacht gesellten sich drei andere Spanier zusammen, die sind zu diesen dreien Gehenkten zum Galgen kummen, haben ihnen die Schenkel vom Leib abgehaut (…) es mußte alles gessen sein"

"Die Idee der Kolonie an sich ist unmoralisch!"

Ulrich Schmidl
Reporter des Elends - der Straubinger Utz SchmidlBild: Diego Abad de Santillán

Der Landsknecht Schmidl gehört zu den bekannteren Deutschen, die am Rio de la Plata ihr Glück suchten. Doch er war nicht der einzige, die im Süden des Kontinents "Amerika machten" - wie der hoffnungsvolle Aufbruch über den Atlantik damals genannt wurde. Bernd Wulffen hat sich auf Spurensuche begeben. Ehemals Diplomat in Buenos Aires, hat der Autor jahrelang Bücher, Zeitungen und Privatarchive durchwälzt – nun ist sein Buch "Deutsche Spuren in Argentinien" erschienen.

Die "typisch preußischen" Eigenschaften waren auch im südlichen Amerika geschätzt. Vor allem in Potosí, der ehemals reichsten, heute wohl einer der ärmsten Städte der Welt, gelegen im heutigen Bolivien. Dort fanden die spanischen Kolonialherren schließlich Silber. Rausholen und wegschaffen, hieß ihre oberste Devise. Technisches Know-How im Bergbau hatten sie nicht. Der deutsche Bergwerksdirektor Zacharias Helms sollte helfen: "Wenn die Spanier mehr auf das Wohl des Landes, als auf ihre eigenen Interessen bedacht wären…" beginnt dieser sein niederschmetterndes Urteil über die desolate Verwaltung der spanischen Kolonialherren Ende des 18. Jahrhunderts.

Eiserne Disziplin und Ordnung – das kam vor allem bei den Kreolen, den gebürtigen Amerikanern gut an. Die hatten den Schlendrian der spanischen Krone bald satt, wie schon Alexander von Humboldt auf seiner Reise durch die Kolonien zwischen 1799 und 1804 feststellte. Der preußische Naturforscher wurde zum Fürsprecher der Unabhängigkeit und bestärkte die Freiheitskämpfer in ihrer Entschlossenheit.

Flash-Galerie Libertadores
Der argentinische Befreier José de San Martín (Bild) kam 1812 mit demselben Schiff nach Buenos Aires wie von Holmberg. Der Offizier war die "rechte Hand" des anderen Nationalhelden - Manuel Belgrano.

Belgranos rechte Hand

Weniger mit Worten als mit harter Munition bestärkte ein Offizier den Freiheitskampf: Eduard Kailitz Freiherr von Holmberg. 1778 in Tirol geboren, kam er 1812 nach Argentinien, um sich dem Heer der argentinischen Patrioten anzuschließen – bald wurde er von General Manuel Belgrano zum Generalkommandanten ernannt. "Ich glaube, dass er das Vertrauen des Generals vor allem dadurch gewann, dass er (…) unterschiedslos auf unsere halb irregulären Heere die ganze Strenge der deutschen Disziplin anwenden wollte", schreibt ein Zeitzeuge. Holmbergs Artillerie schlug die Anhänger der spanischen Krone 1812 bei Tucumán und "jagte ihnen einen dermaßen Schrecken ein, dass sie erst mal flüchteten", sagt Bernd Wulffen.

Soldaten, Kaufmänner, Scharlatane

Das Land am Silberfluss lockte Soldaten, Glücksritter, Kaufleute und Wissenschaftler. Wulffen leitet den Leser durch 200 Jahre argentinische Geschichte und zeigt: auch wenn die Deutschen nicht so präsent waren wie die Spanier und Engländer, sie haben wichtige Stationen der letzten 200 Jahre am Rio de la Plata begleitet und mitbestimmt.

Burmeister Harmann 1807-1892
Burmeister war Förderer der Naturwissenschaften - auch in ArgentinienBild: Valérie75

Da war zum Beispiel der "Schrecken der Wüste", Friedrich Rauch, der 1820 einen blutigen Feldzug gegen die Indianer der Pampas anführte. Oder Martin Thym, der zu einer Meuterei gegen Brasilien anstachelte und später die erste Brauerei am Rio de la Plata gründete. Und als man ab Mitte des 19.Jahrhunderts versuchte, die Einwanderung aus "Mitteleuropa" zu fördern, wurden zahlreiche renommierte Wissenschaftler aus Deutschland geholt, wie Carl Hermann Conrad Burmeister – Vertreter der "Linken" im preußischen Landtag nach 1848. Später gründete er die erste Naturwissenschaftliche Fakultät an der Universität Cordoba. Die Deutschen brachten aber auch das Bandoneon, die "Seele des Tangos" in den "Hafen der guten Winde", verteilten sozialistische Manifeste und kämpften in den Arbeiterstreiks um 1900.

Perón und die Nazis

Von deutschen Faschisten guckte sich Juan Domingo Perón, der große Arbeiterführer der 50er Jahre, ab, wie man Massen mobilisiert. Und die "Affaire Helmuth" zwingt das zuvor neutrale Land schließlich zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg – ein Hochstapler wollte heimlich Waffen vom Hitler-Regime kaufen. Die Geheimmission wurde von den Alliierten aufgedeckt. Argentiniens Argument, im Krieg "neutral" bleiben zu wollen, wurde nicht weiter akzeptiert, Argentinien stellte sich auf Seiten der Alliierten.

Elisabeth Käsemann
Elisabeth Käsemann - gefoltert und ermordet in Argentinien

Später hatte Perón jedoch kein Problem damit, Alt-Nazis ins Land zu holen. Besonders gerne sollten es deutsche Ingenieure sein, schließlich sollte Argentinien zu einer Industrienation gemacht werden. Eine absurde Situation entstand – jüdische Einwanderer und Nationalsozialisten lebten im selben Exilland. Es kommt zum Pressekrieg zwischen der rechtskonservativen, deutschen "La Plata Zeitung" und dem Sprachrohr der jüdischen Einwanderer, dem "Argentinischen Tageblatt."

"Nacht und Nebel"

Auch die grausamen Militärdiktatoren (1976 – 1983) schauten bei Hitler ab: in "Nacht und Nebel"–Aktionen ließen sie geschätzte 30.000 Menschen verschwinden. Nach der Rückkehr zur Demokratie verhinderte bald ein Amnestiegesetz die Aufklärung dieser Verbrechen. Erst jetzt werden ehemals versandete Verfahren gegen Ex-Diktatoren wie Jorge Videla neu aufgerollt. Auch die deutsche Justiz ermittelt: wegen mutmaßlichen Mordes an dem Münchner Studenten Klaus Zieschank 1976 und der Tübinger Soziologin Elisabeth Käsemann 1977.

Die Toten Hosen vor der Casa Rosada Argentinien
Die "Toten Hosen" vor der Casa Rosada in Buenos AiresBild: DW/Victoria Eglau

Bernd Wulffens Sachbuch "Deutsche Spuren in Argentinien" ist spannend geschrieben und leicht zu lesen – für Argentinien-Kenner genauso wie für Leser, die mit der Geschichte des Landes nicht vertraut sind. Das Buch leistet einen Brückenschlag zwischen historischen Fakten, skurrile, teils gruselige Anekdoten und detaillierten Portraits wichtiger deutscher Zeitgenossen. Es zeigt: das Land am Silberfluss hat schon immer eine Faszination auf die Deutschen ausgeübt – und umgekehrt.

Auch wenn die Jugend am Rio de la Plata inzwischen weniger Goethe und Thomas Mann als die deutschen Punk-Hits "Opel Gang" und "Hier kommt Alex" auswendig lernt – 11.000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, gelingt "Los (Toten) Hosen", was in Deutschland niemand mehr glauben kann: Konzerte mit mehreren zehntausend Besuchern.

Autorin: Anne Herrberg

Redaktion: Mirjam Gehrke

Bernd Wulffen: Deutsche Spuren in Argentinien. Ch. Links Verlag Berlin. 264 Seiten. ISBN: 978-3-19-004289-0, 19,90 Euro