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Tempo gedrosselt

20. Mai 2010

Das Treffen der Präsidenten der Ukraine und Russlands in Kiew hat gezeigt, dass die ukrainische Führung die Annäherung an Moskau im bisherigen Tempo nicht fortfahren kann, meint der Osteuropaexperte Gerhard Simon.

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Bild: dpa/Montage DW

DW-WORLD.DE: Herr Simon, wer hat in Ihren Augen die Agenda beim Treffen der Präsidenten Viktor Janukowitsch und Dmitrij Medwedjew in Kiew bestimmt?

Gerhard Simon: Die Agenda haben beide gemeinsam bestimmt. Etwas sensationelles ist bei diesem Besuch nicht geschehen. Das Sensationelle ist früher geschehen – die Unterzeichung der Gas- und Flottenabkommen in Charkiw vor einiger Zeit. Von machen Beobachtern und wahrscheinlich auch in den Ländern selbst ist erwartet worden, dass etwas ganz großes in Kiew passieren würde. Das ist nicht geschehen, und dafür gibt es gute Gründe.

Welche sind das?

Portrait von Gerhard Simon (Foto: DW)
Gerhard SimonBild: Gerhard Simon

Noch weitere große Gesten oder große Verträge hätten wahrscheinlich das Fassungsvermögen überschritten. Was die Ukraine angeht, so glaube ich, ist auch der Regierung Janukowitsch-Asarow klar geworden, dass man in diesem Tempo nicht fortfahren kann, weil die politisch interessierte Öffentlichkeit in der Ukraine das nicht einfach hinnimmt, was in den vergangenen Wochen passiert ist. Die Hetze, mit der diese Annäherung betrieben worden ist, legt die Vermutung nahe, dass entweder auf einer Seite oder auf beiden Seiten die Vorstellung besteht, das Zeitfenster, vollendete Tatsachen zu schaffen, sei begrenzt.

Wodurch könnte ein solches Zeitfenster begrenz sein?

Der entscheidende Faktor, mit dem die neue ukrainische Regierung rechnen muss, ist der Widerstand und die Opposition in der Ukraine. Es ist völlig klar, dass die politische Opposition diese Politik nicht akzeptiert. Andererseits steht die Opposition in der Ukraine heute noch unter Schock und hat sich noch nicht gesammelt. Sie ist bisher nicht wirklich handlungsfähig. Diese Situation nutzt die neue ukrainische Regierung aus.

Wie wird sich diese Annäherung an Russland auf die ukrainische Außenpolitik auswirken?

Das ist für Europa eine ganz entscheidende Frage. Bedeutet diese Annäherung an Russland nun zugleich Distanz zur Europäischen Union? Und wie steht es mit den Plänen, ein neues Assoziierungsabkommen abzuschließen? Wie steht es mit den ukrainischen Wünschen, eine Freihandelszone mit der EU zu bilden? Offiziell hält die ukrainische Regierung an den Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen fest. Wie sich das wirklich gestalten wird, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. Eines ist meiner Ansicht nach klar: die Ukraine kann nicht gleichzeitig ein Freihandelsabkommen mit der EU schließen und einer Zollunion mit Russland, Kasachstan und Belarus beitreten. Spätestens an diesem Punkt wird sich zeigen, dass sich die ukrainische Führung für das eine oder für das andere entscheiden muss. Wenn es nach Russland geht, dann sollte die Ukraine dem gemeinsamen Zollabkommen beitreten. Aber weder Janukowitsch noch Asarow haben sich in dieser Sache bisher festgelegt. Dass die Ukraine weiterhin an Beziehungen zur EU interessiert ist, ist vollkommen klar, schon aus finanziellen Gründen. Die ukrainische Führung möchte gleichzeitig sehr gute Beziehungen zu Russland und gute Beziehungen zur EU.

Geht das?

Wenn bei dieser Wackelpolitik alles gut geht, dann kann man in der Tat von beiden Partnern – Russland und EU – das Optimale herausholen. Wenn es aber schief geht, dann kann es passieren, dass am Ende die Ukraine zwischen allen Stühlen sitzt und weder ihre Interessen gegenüber Russland noch gegenüber der EU optimal wahrnehmen kann. Das ist das Risiko des Schlauen in der Mitte.

Wie denkt man in der EU über diese neue russisch-ukrainische Annäherung?

Die großen Länder in Europa - Deutschland, Frankreich – sind derzeit so mit anderen Problemen beschäftigt, dass sie kaum wahrgenommen haben, was in Osteuropa passiert. Diese russisch-ukrainische Annäherung spielt in der Wahrnehmung auch der deutschen Regierung zurzeit eine ganz untergeordnete Rolle, einfach weil keine Kraft da ist, um sich damit zu beschäftigen. Das ist schlecht, weil hier wichtige politische Entwicklungen in Osteuropa wieder einmal an uns vorbeilaufen.

Das Gespräch führte Tatiana Petrenko
Redaktion: Markian Ostaptschuk / Gero Rueter