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Im Gulag

7. Mai 2010

Für Hans-Joachim Muschiol, Jahrgang 1925, war der 8. Mai 1945 der Tag, an dem eine fünfjährige Qual begann: Bis 1950 blieb er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Zuletzt war er in einem sibirischen Gulag.

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Hans Joachim Muschiol als 18jähriger Soldat im September 1943 in Oppeln/Oberschlesien aufgenommen. (Foto:privat)
Soldat mit 18: Hans Joachim MuschiolBild: Privat

Gemeinsam mit den Soldaten des 103. Regiments der 4. Panzerdivision liegt Hans-Joachim Muschiol an diesem frühlingshaften Maitag in einer Feuerstellung an der "Frischen Nehrung". Diese 70 Kilometer lange Landzunge trennt das "Frische Haff", einen kleinen Binnensee, von der Ostsee. Die übrigen Regimenter der 4. Panzerdivision sind schon vorher über die Ostsee in Sicherheit gebracht worden. Die Nachricht von der Kapitulation der deutschen Wehrmacht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Angesichts der schnell heranrückenden sowjetischen Truppen werden bei Hans-Joachim Muschiol die schlimmsten Befürchtungen wach. Sie sollten sich bewahrheiten.

Die Gefangennahme

Eine lange Reihe von deutschen Soldaten geht in Kriegsgefangenschaft. (Foto:AP Photo)
Überall in Europa gab es 11 Millionen deutsche Soldaten und SS-Leute in alliierter KriegsgefangenschaftBild: AP

Die sowjetischen Soldaten, so erinnert er sich, kommen in aller Seelenruhe zu den deutschen Stellungen, inspizieren zunächst die Waffen und dann - mit großem Vergnügen - die Reste des Mittagessens: "Es gab Milchreis und unsere Feldküche sättigte erst einmal die hungrigen Russen!"

Anschließend werden die Deutschen auf Fahrzeuge verladen und nach Kahlberg, einem kleinen Badeort an der Ostsee, transportiert. Dort erwarten sie aufgebrachte Bürger. Sie lassen ihrem Zorn freien Lauf und beschimpfen die eigenen Soldaten.

Zu der Schmach, von der eigenen Bevölkerung missachtet zu werden, kommen Plünderungen und Drangsalierungen der sowjetischen Soldaten, die mit den deutschen Kriegsgefangenen keineswegs zimperlich umgehen. Aber Hans-Joachim Muschiol und die anderen Gefangenen hatten sich ohnehin keine Illusionen darüber gemacht, was mit ihnen geschieht, sollten sie in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten.

Der Marsch

Mit einer Fähre geht es am gleichen Tag weiter ins ostpreußische Tolkemit - etwa 100 Kilometer von Warschau entfernt. Von dort führt der Weg über Frauenburg nach Braunsberg im masurischen Ermland, wo sie in einer verlassenen deutschen Kaserne untergebracht werden. Hans-Joachim Muschiol erinnert sich an den beschwerlichen Marsch: "Von Weitem sahen wir das frische Haff immer wieder aufblinken. Es war ja Frühling, aber wir hatten nichts davon."

Zur Mutlosigkeit, die allmählich um sich greift, kommt noch, dass ihre Bewacher ihnen nicht sagen, wohin die Reise geht. Die deutschen Soldaten schöpfen auch keine Hoffnung, als sie in Braunsberg stoppen. Sollten sie hier festgesetzt werden und nicht irgendwo in der Sowjetunion? Gerüchte machen die Runde, die aber ebenso haltlos sind wie die stillen Hoffnungen, die sich manch einer von ihnen macht.

Von Braunsberg nach Moskau

Wache des Lagers Nr. 58 in Temniki, Eisenbahnstation Potma, Mordwinische ASSR. (Foto:Deutsch-russisches Museum Karlshorst)
Lagerwache in Temniki, Eisenbahnstation PotmaBild: Deutsch-Russisches Museum Karlshorst

Zehn Tage bleiben die Gefangenen dort, werden einer Ärztin vorgestellt und müssen sich den für Kriegsgefangene obligatorischen kahlen Schädel rasieren lassen. Die relative Ruhe in Braunsberg wird kurz darauf von den quietschenden Rädern eines Güterzugs jäh unterbrochen. Vor den Toren der Kaserne steht ein dampfendes Ungetüm mit einer langen Kette von Güterwagons.

Laute Kommandos hallen über das Kasernengelände. Bald sind die Wagons mit deutschen Kriegsgefangenen gefüllt. Es beginnt eine scheinbar unendlich lange Reise in die Ungewissheit.

Endlos rattern die Räder über die Schienen. Das monotone Geräusch wird nur dann unterbrochen, wenn der Zug - manchmal auf offener Strecke oder in einem kleinen Bahnhof - stehen bleibt. Die Soldaten sind mit sich und ihren Gedanken an die Heimat, ihre Familien und Freunde beschäftigt. Die meisten wissen nicht, ob und wie sie die letzten Kriegswochen überstanden haben. Hans-Joachim Muschiol sitzt in einem der Wagons und versucht sich mit seinem Schicksal zu arrangieren: "Wir haben bis zuletzt daran geglaubt, dass wir gerettet werden, weil wir wussten, dass die Russen mit ihren Gefangenen nicht - ich drücke das jetzt einmal vorsichtig aus - zimperlich umgehen.“

150 Kilometer vor Moskau kommt der Zug zum Stehen. Raue Kommando-Töne treiben die Gefangenen aus den Wagons. Die erste Nacht müssen sie unter freiem Himmel verbringen, dann werden sie auf verschiedene Kriegsgefangenenlager in der Sowjetunion verteilt.

In Kriegsgefangenschaft

Deutsche Kriegsgefangene bei der Holzbeschaffung in einem Kriegsgefangenenlager in der Nähe der Eisenbahnstation Jusha. (Foto: deutsch-russisches Museum Karlshorst)
Auf die Kriegsgefangenen wartete harte Arbeit - bei Kälte und HitzeBild: Deutsch-Russisches Museum Karlshorst

Es beginnt ein Alltag aus schwerer Arbeit, Furcht vor Bestrafung wegen kleinster Vergehen und einem nicht endenden Hungergefühl. Vor allem der ständige Hunger macht die körperliche Arbeit zur Qual. Die deutschen Kriegsgefangenen bekommen die Wut zu spüren, die das Auftreten der deutschen Soldaten in der Sowjetunion hinterlassen hat. Manche Aufseher peinigen die Gefangenen derart, dass viele die Torturen nicht überleben.

Hans-Joachim Muschiol bleibt für drei Jahre Kriegsgefangener. Die Tage vergehen mit eintöniger Arbeit und der ständigen Angst, den Drangsalierungen der Wärter ausgesetzt zu sein. Er organisiert mit anderen Gefangenen eine Bande, wie es später heißt, um zusätzliche Nahrungsmittel zu organisieren. Das geht eine ganze Zeit lang gut, bis er eines Tages auffliegt.

Im Gulag

Gefangener Soldat in einem sowjetischen Gulag im Osten Sibiriens. (Foto:AP)
Trostlose Hölle: ein Gulag in Ost-SibirienBild: AP

Im Winter 1948 wird er erwischt und vor ein Gericht gestellt. Nach einer kurzen Verhandlung wird Hans-Joachim Muschiol zu 15 Jahren Zwangsarbeit in einem Gulag in Mittelsibirien verurteilt. Es ist der 10. Dezember 1948, als das Urteil gefällt wird. Zur gleichen Zeit tagt in New York die Generalversammlung der Vereinten Nationen und beschließt, ausgerechnet den 10. Dezember eines jeden Jahres zum "Tag der Menschenrechte" zu erklären. Für Hans-Joachim Muschiol hat diese Erklärung keine Bedeutung. Er wird in ein Gulag in Sibirien verschleppt, wo er mit etwa 1200 anderen Leidensgenossen bis zum April 1950 bleiben muss.

Amnestie und Freiheit

Heimkehrer bekommen im Auffanglager Friedland bei Göttingen eine erste Unterkunft
Beginn einer neuen Zeit für zurückkehrende Kriegsgefangene: Auffanglager Friedland bei GöttingenBild: dpa

Im April 1950 verkündet der sowjetische Staatschef Stalin eine Amnestie, unter die auch das Gesetz fällt, durch das Hans-Joachim Muschiol verurteilt worden war. Er wird entlassen und in die damalige DDR geschickt. Am 27. April 1950 kommt er in Frankfurt an der Oder an, verlässt die DDR aber sofort wieder und gelangt schließlich zwei Tage später in das Aufnahmelager Friedland in der Nähe von Göttingen.

Hans-Joachim Muschiol ist einer von etwas mehr als 11 Millionen deutschen Soldaten und Angehörigen der SS, die in Kriegsgefangenschaft geraten sind. Nach letzten Schätzungen haben etwas mehr als 1,2 Millionen Menschen die Lager nicht überlebt. Die letzten Kriegsgefangenen kehrten unter großer Anteilnahme der Bevölkerung 1955 nach Deutschland zurück.

Autor: Matthias von Hellfeld

Redaktion: Kay-Alexander Scholz