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Stell dir vor, es ist Theater...

2. April 2010

...und es ist bei dir zu Hause: Das Theater-Format "X-Wohnungen" lädt weltweit zu Performances und Installationen bei Menschen ein, die in Problembezirken großer Städte leben. Ein Export-Schlager aus Deutschland.

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Christoph Gurk, Kurator des Theaterprojekts "X-Wohnungen", in einer Küche ohne Wasseranschluss in Kliptown, Soweto (Foto: Aya Bach)
Blick in fremde Wohnungen: Kurator Christoph GurkBild: DW

Auf den ersten Blick mag es bizarr erscheinen: Warum machen Künstler Performances in beengten Privatwohnungen, wo doch Theater, Bühnen oder Studios zur Verfügung stehen? Der Ansatz des Theaterprojekts "X-Wohnungen" ist ungewöhnlich: Er holt nicht Menschen ins Theater, sondern bringt Theater zu den Menschen, wo sie ohnehin sind: zu Hause in ihren Wohnungen. Vor allem zu Menschen, die wenig oder gar nichts mit Theater zu tun haben.

Es beginnt 2002. Theatermann Matthias Lilienthal, Programmdirektor des Festivals "Theater der Welt" und immer gut für innovative Projekte, schickt Künstler verschiedener Disziplinen in Wohnungen der Ruhrgebietsstadt Duisburg: Sie machen aus alltäglichen Behausungen in Arbeiterbezirken temporäre Bühnen, Installationen, Orte der Kunst.

Eine heruntergekommene, fast leere Wohnung, darin ein Bett, in dem grell angestrahlt ein nackter Mann auf dem Bauch liegt, in Vordergrund eine Frau, die von ihm abgewandt auf den Betrachter zugeht (Foto: David Baltzer/ZENIT/Theater der Welt)
Unbekannte Räume: 'X-Wohnungen' in Duisburg 2002Bild: Hebbel Theater

Klangcollage auf dem Balkon

"X-Wohnungen" ist so erfolgreich, dass es Matthias Lilienthal – dann als künstlerischer Leiter des Berliner Theaters "Hebbel am Ufer" (HAU) - weiter ausdehnt: Bald werden Berliner "Problembezirke" zum Schauplatz von "X-Wohnungen": Zuschauer erleben (inszenierte) Ehedramen im verrufenen Lichtenberg oder erkunden im Migranten-Stadtteil Kreuzberg verlassene Wohnungen mit Nachtsichtgeräten. Später gibt es bedrohliche Klangcollagen auf dem Balkon eines Hochhauses in der gefürchteten Neuköllner Gropiusstadt. Oder eigens installierte Fensterrahmen, die den Blick zwingend auf den Himmel oder auf die raue Lebensrealität des Bezirks fokussieren und die Wahrnehmung in neue Richtungen lenken.

All diesen Inszenierungen, Installationen, Performances ist gemeinsam, dass sich für die Bewohner der Blick auf die eigene Umgebung verändert. Und Fremde erhalten Einblicke in Lebenswelten, zu denen sie sonst keinen Zutritt hätten. Oder in die sie sich schlicht nicht hineintrauen: Selbst Teile des Berliner Bezirks Neukölln wurden zeitweise als No-Go-Area gebrandmarkt. So ist "X-Wohnungen" auch eine Art künstlerisch erweiterte Stadterkundung.

Szene aus dem theaterprojekt "X-Wohnungen" Sao Paolo 2009: Schauspielerin Phaedra vor Postern, auf denen sie selbst zu sehen ist, in einer Privatwohnung. (Foto: Hebbel Theater GmbH, Berlin)
Inszeniert oder echt? Schauspielerin Phaedra in einer 'X-Wohnung' in Sao Paolo vor Plakaten, auf denen sie selbst zu sehen istBild: Hebbel Theater

Längst ist das Format "X-Wohnungen" auch außerhalb Deutschlands gelaufen: Im Istanbuler Stadtteil Tarlabasi, den viele Menschen aus Angst meiden, in Caracas und Sao Paolo. Nun also Johannesburg. Die künstlerische Leitung liegt nun bei Christoph Gurk, Kurator des Berliner "HAU". Er wurde vom Goethe-Institut Johannesburg damit beauftragt, das Projekt parallel zur Fußball-WM 2010 zu realisieren.

In der Stadt, die zu den gefährlichsten der Welt gerechnet wird, sucht Christoph Gurk mit X-Wohnungen gezielt Orte auf, die von Vielen gemieden werden: das schwarze Township Kliptown in Soweto und den Johannesburger Stadtteil Hillbrow, der als Hochburg von Kriminalität und Gewalt gilt. In beiden Quartieren entsteht ein Theater-Parcours, den die Zuschauer jeweils zu zweit erleben werden. Um in diesen benachteiligten Vierteln Menschen zu finden, die ihre Wohnungen zur Verfügung stellen, arbeitet Christoph Gurk mit ortsansässigen Institutionen zusammen: Das Jugendzentrum "Sky", das sich um Kinder aus Kliptown kümmert, oder das Hillbrow Theatre haben die ersten Kontakte möglich gemacht.

Zwölf Quadratmeter Wellblechhütte

Christoph Gurk (l.) mit deutschen und südafrikanischen Partnern des Projekts X-Wohnungen vor einer vergitterten Wohnungstür in Hillbrow, Johannesburg (Foto: Aya Bach)
X-Wohnungen: Ortstermin in JohannesburgBild: DW

Christiane Dankbar, Partnerin des "HAU" in Johannesburg, war und ist noch immer damit beschäftigt, Wohnungsgeber zu finden. "Oft ist es schwierig, den Menschen zu erklären, was das überhaupt soll", sagt sie. Doch wenn das erst einmal klappt, sind überraschend Viele bereit, sich nicht dem Stress einer künstlerischen Produktion zu stellen und sogar Fremde in ihre Wohnung zu lassen – auch wenn die vielleicht nur aus zwölf Quadratmetern Wellblechhütte besteht oder sich als Apartment entpuppt, in dem dreizehn Menschen leben.

X-Wohnungen, das bedeutet für die Zuschauer jeweils zu zweit zehn Minuten lang an einem Schauplatz zu verweilen und dann weiterzuziehen zum nächsten. Für Künstler und Bewohner bedeutet das aber eine Performance nach der anderen – 25 Mal hintereinander, mehrere Stunden am Tag, mehrere Tage lang. Wenn im Juli 2010 die letzten Tore der WM geschossen werden, dann werden sich Freunde, Fremde, Neugierige, Theaterfreaks oder andere Wohnungsgeber auf den Weg machen und X-Wohnungen in Johannesburg und Soweto erleben.

Porträt des südafrikanischen Dramatikers und Regisseurs Paul Grootboom (Foto: Aya Bach)
Mit dabei: Südafrikas Theaterstar Paul GrootboomBild: DW

Zum Konzept von X-Wohnungen gehört, dass nicht nur internationale Künstler aus Deutschland und anderswo an der Umsetzung beteiligt sind, sondern genauso Kolleginnen und Kollegen aus Südafrika. Und nicht etwa Kurator Christoph Gurk oder das Team des Berliner "Hebbel am Ufer" realisieren die Performances, sondern verschiedene Regisseure, Musiker, bildende Künstler, die Kontakt zu den Menschen in "ihrer" Wohnung aufgenommen haben und die ihre Arbeit auf die Bewohner und ihr Lebensumfeld abstimmen.

Kolonialgeschichte und Apartheid

Bei einem so komplexen Theater-Abenteuer wird schon die Vorbereitungsarbeit zu einem Teil des Kunstprojekts, und ganz gewiss ist sie ein wichtiger Beitrag zum Kulturaustausch. Denn hier gibt es an keiner Stelle vorgefertigte Strukturen wie in einem funktionierenden Theater: Alles muss von Grund auf neu entstehen, jeder einzelne Kontakt ist eine Begegnung "zum ersten Mal" – und nicht selten die erste Begegnung eines Menschen mit dem Thema Theater. Und bei jedem Kontakt spielt – meist unausgesprochen – das Thema Schwarz und Weiß, die Geschichte von Kolonialismus und Apartheid eine Rolle: Immer wieder stehen sich Benachteiligte und Privilegierte gegenüber und müssen mit diesen Themen umgehen – eine Herausforderung für beide Seiten.

Flash-Galerie Theaterprojekt X-Wohnungen Johannesburg
Respekt vor der Geschichte: Peter Anders (m.) bei einem Workshop des Goethe-InstitutsBild: DW

Darum hat schon das pure Zustandekommen von "X-Wohnungen" Auswirkungen, die nicht zu unterschätzen sind, meint Peter Anders, als Programmleiter am Goethe-Institut Johannesburg Auftraggeber des Projekts: "Ich bin fest überzeugt, dass diese unmittelbaren Begegnungen 'face to face' eine Hinterlassenschaft haben. Das ist nicht a priori immer positiv, und das erfordert Fingerspitzengefühl im Umgang miteinander, gerade in diesem Land! Aber es macht die Sache auch so interessant. Und wenn Journalisten zu 'X-Wohnungen' kommen und eine ausländische Öffentlichkeit schaffen, macht das die Leute sehr stolz, weil sie merken, dass sie ernst genommen werden. Ich glaube, das ist die Lektion, die man hier lernen kann: Den Lebensbedingungen der Menschen und der Geschichte eine ehrliche Aufmerksamkeit entgegenzubringen."

Autorin: Aya Bach
Redaktion: Sabine Oelze