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Chaotische Monate

5. April 2010

Chaotische Monate liegen vor den 400 Abgeordneten der ersten fei gewählten Volkskammer der DDR, als sie am 5. April 1990 das Plenum betreten. Ihr Ziel ist der Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik.

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Die Präsidentin der Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl während einer Abstimmung (Foto: dpa)
Sabine Bergmann-Pohl: Erste Präsidentin der frei gewählten DDR-VolkskammerBild: dpa

Den Parlamentariern stehen große Aufgaben bevor, dennoch geht es während der Sitzungen im Ost-Berliner Palast der Republik oft drunter und drüber. Sabine Bergmann-Pohl, die erste Volkskammer-Präsidentin, führt das darauf zurück, dass etwa zwei Drittel der Abgeordneten - wie sie selbst auch - keine parlamentarischen Erfahrungen hatten: "Es war ein sehr spontanes Parlament, wir hatten keine feste Geschäftsordnung wie im deutschen Bundestag." Mehr noch: Die wenigen Regeln, auf die sich die Abgeordneten verständigen können, werden - je nach Bedarf - andauernd geändert. Aber, so Sabine Bergmann-Pohl, "wir waren ein ungewöhnlich fleißiges Parlament."

Mission: Wiedervereinigung

Die CDU ist aus der Volkskammer-Wahl am 18. März 1990 als stärkste Partei hervorgegangen. Sie beansprucht neben dem Amt des Ministerpräsidenten auch das der Volkskammer-Präsidentin. Sabine Bergmann-Pohl ist bis zu diesem Tag als Ärztin tätig. Seit 1981 gehört sie der Ost-CDU an; zwei Jahre zuvor war sie Mitglied des Berliner Bezirksvorstands ihrer Partei geworden.

Portrait von Lothar de Maizière, erster frei gewählter Ministerpräsident der DDR (Foto:AP)
Erster frei gewählter DDR-Ministerpräsident: Lothar de Maizière (CDU)Bild: AP

Der Wahlkampf war von einem einzigen Thema gekennzeichnet gewesen: Der Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik. Besonders Helmut Kohl, der westdeutsche Kanzler, hatte sich diesen Wunsch in zahlreichen Wahlkampfreden zu Eigen gemacht. Die SPD, mit ihrem westdeutschen Zugpferd Willy Brandt, hatte hingegen auf einen langsameren Prozess des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten gesetzt.

Nun machen sich die meisten Abgeordneten daran, das umzusetzen, was die DDR-Bürger von ihnen erwarten. Dabei gibt es eine klare Trennung zwischen den Parteien, wie sich Sabine Bergmann-Pohl erinnert: "Die Bürgerrechtler von Bündnis 90/Die Grünen wollten eine reformierte DDR. Die PDS wollte die alten Verhältnisse zementieren." Die anderen Parteien - CDU, SPD, DSU, die Liberalen und der "Bund der Demokraten" - wollten die Auflösung der DDR und die Vereinigung mit der Bundesrepublik.

Große Aufgaben - Große Koalition

Das Wahlergebnis hätte auch eine bürgerliche Koalition zwischen der CDU und den Liberalen möglich gemacht. Aber die bevorstehenden Aufgaben sind derartig groß, dass Ministerpräsident Lothar de Maizière auch die zweitstärkste Partei - die SPD - in die Regierung einbindet.

Außenansicht des Palastes des Republik in Ost-Berlin. Hier wurde die Diktatur der DDR von der Demokratie abgelöst
Von der Diktatur zur Demokratie: Palast der Republik in Ost-BerlinBild: picture alliance/ dpa

Da die Zukunft aller Deutschen auf der Tagesordnung steht, regiert die westdeutsche Bundesregierung natürlich mit. Beraterstäbe fallen in der DDR ein und sorgen dafür, dass der juristische Prozess nicht nur den Buchstaben der beiden deutschen Verfassungen genügt, sondern auch dem Wunsch der DDR-Bürger nach rascher Vereinigung mit der Bundesrepublik entspricht. Diesem Wunsch fühlt sich Ministerpräsident Lothar de Maizière in erster Linie verpflichtet.

"Wir sind ein Volk!"

In seiner Regierungserklärung beschreibt der frühere Musiker und Rechtsanwalt die Situation in der DDR: "Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil eines Volkes, als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll." Damit ist die Programmatik seiner Regierung umschrieben. Der Ministerpräsident stellt sich diesem Anspruch und versucht in den folgenden Monaten, die guten Seiten der DDR wenigstens teilweise in die neue Zeit zu retten.

In den Prozess des Zusammenwachsens bringen "wir unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz ein". Seine Worte stoßen in der Bundesrepublik auf wenig Resonanz. Die Regierung Helmut Kohls organisiert die Einheit Deutschlands unter westdeutschen Vorzeichen, da bleibt wenig Platz für Erfahrungen aus der alten DDR und mögen sie noch so gut sein.

Unerwartete Hilfe

Portait von Gregor Gy<si, dem damaligen PDS-Vorsitzenden (Foto:dpa)
Der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi: Hilfe bei VerfassungsänderungenBild: picture alliance/ dpa

Neben westdeutschen Beratern bekommt die Regierung von Lothar de Maizière mitunter auch von unerwarteter Seite Hilfe. In den Reihen der "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) sitzt Gregor Gysi als Fraktionsvorsitzender. Damals wie heute zeichnet er sich durch rhetorische Begabung aus, die er zur deutlichen Abgrenzung gegenüber den anderen Parteien einsetzt. Nur die PDS ist grundsätzlich gegen die Vereinigung mit der Bundesrepublik, dennoch bietet Gregor Gysi bei den zahlreichen Verfassungsänderungen seine Hilfe an: "Herr Gysi hat uns ständig geholfen, die Verfassung zu ändern, wir mussten die Verfassung anpassen und da war er durchaus hilfreich," erinnert sich Sabine Bergmann-Pohl.

Die Arbeit der ersten frei gewählten Volkskammer ist am 3. Oktober 1990 - dem Tag des Beitritts der DDR zum "Geltungsbereich des Grundgesetzes" - beendet. Bis dahin erfüllen die Abgeordneten den Wunsch des Volkes. Sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass der Ruf "Wir sind ein Volk!" Realität wird und die Deutschen 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dessen Ergebnis die Teilung Deutschlands und Europas war, wieder in einem Staat leben können.

Autor: Matthias von Hellfeld

Redaktion: Dеnnis Stutе