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Sexueller Missbrauch und Verjährungsfristen

9. März 2010

Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen bleibt Thema in Politik und Gesellschaft. Während immer neue Missbrauchsvorwürfe zu Tage kommen, hat eine politische Diskussion um die Verjährungsfristen begonnen.

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Hand mit Rosenkranz (Foto: dpa)
Fromm oder kriminell? Die Missbrauchsberichte in katholischen Einrichtungen nehmen kein EndeBild: picture alliance / dpa

Elite-Internat Odenwaldschule, Regensburger Domspatzen, Stift St. Peter in Salzburg, Educon in Düsseldorf und jetzt vielleicht auch die Limburger Domsingknaben? Die Liste von neuen Missbrauchsfällen im Umfeld von kirchlichen und schulischen Einrichtungen wird von Tag zu Tag länger.

Konkreter Vorwurf eines Limburger Domsingknaben

Außenansicht der Odenwaldschule in Ober-Hambach bei Heppenheim, Hessen (Foto: AP)
Die Vorgänge an der Odenwaldschule sorgen für AufsehenBild: AP

Laut der "Nassauischen Neuen Presse" vom Dienstag (09.03.2010) soll es auch beim Limburger Knabenchor einen Kindesmissbrauchsvorfall gegeben haben. Schon in den letzten Tagen wurden die Gerüchte lauter. Jetzt wird der ehemalige Dirigent Hans B. beschuldigt, in seiner Amtszeit vor circa 40 Jahren einen Singknaben sexuell belästigt zu haben. Der Limburger Bischof Dr. Franz-Peter Tebartz-van Elst hatte sich an die Öffentlichkeit gewandt und an die Opfer appelliert, sich jetzt zu offenbaren. Laut Bistumsverwaltung gehen aktuell neue Hinweise ein.

In Düsseldorf ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen 17 ehemalige Mitarbeiter einer Einrichtung, die Schulen für behinderte und verhaltensauffällige Kinder betreibt. "Educon" ist ein Tochterunternehmen der evangelischen Graf-Recke-Stiftung. Diese ist eine der ältesten diakonischen Einrichtungen in Deutschland und kümmert sich auch um autistische Kinder. Wie jetzt bekannt wurde, wird seit Sommer 2009 gegen ehemalige Educon-Mitarbeiter wegen Misshandlung Schutzbefohlener, Freiheitsberaubung und Nötigung ermittelt. Zahlreiche Videos dokumentieren wohl den Umgang mit den Kindern.

Ist eine Änderung der Verjährungsfristen sinnvoll?

Während die einen auf der Suche nach Aufklärung und Wahrheit sind, hat in der Politik eine Diskussion zum strafrechtlichen und zivilrechtlichen Umgang mit den Verjährungsfristen begonnen. Sowohl beim Straf- als auch beim Zivilrecht gibt es Änderungsforderungen. So wird gefordert, dass der sexuelle Missbrauch an Kindern strafrechtlich noch 30 Jahre lang geahndet werden kann. Aktuell verjähren die Taten nach zehn oder 20 Jahren (je nach Schwere der Tat) nach Volljährigkeit des Opfers.

Die zivilrechtlichen Vorschriften sind dagegen noch differenzierter und in der Regel kürzer. Wer Opfer einer Straftat ist, kann auf dem Privatklageweg nur binnen drei Jahren nach Kenntnis der Tat Schmerzensgeld erlangen. Dabei ist wichtig, wann das Opfer die Tat tatsächlich als Straftat wahrgenommen hat. Denn gerade Kinder und Jugendliche verdrängen Missbrauch und Misshandlungen und erinnern sich erst als Erwachsene an die Übergriffe. Kann ein Opfer nachweisen, dass es für einen bestimmten Zeitraum nach der Tat eine Erinnerungslücke hat, etwa weil die Tat psychisch verdrängt worden ist, beginnt die dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Jahres, in dem die Erinnerung wieder einsetzt. Das kann auch noch recht lange nach dem tatsächlich erfolgten Missbrauch der Fall sein.

Regierungskoalition ist sich uneins

Sabine Leutheusser-Scharrenberger (Foto: AP)
"Freiwillige Entschädigungen" fordert die FDP-Bundesjustizministerin Leutheusser-SchnarrenbergerBild: AP

Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) forderte eine Verlängerung des Verjährungszeitraums von drei auf 30 Jahre. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) findet dies nicht sinnvoll. Sie rief die betroffenen Einrichtungen auf, den Missbrauchsopfern eine finanzielle Entschädigung als symbolische Wiedergutmachung zu zahlen. "Es braucht ein klares Signal an die Opfer, wie zum Beispiel das Gespräch über freiwillige Wiedergutmachungen in den Fällen, in denen die rechtliche Verjährung eingetreten ist", sagte die Ministerin der "Süddeutschen Zeitung". Dies wäre "ein Stück Gerechtigkeit gegenüber der Opfer, auch wenn sich das erlittene Unrecht materiell nicht aufwiegen lässt", sagte sie weiter.

Entschädigung unabhängig von Fristen

Andrea Nahles (Foto: AP)
"Schonungslose Aufklärung", so lautet der Appell von Andrea Nahles (SPD)Bild: AP

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles äußerte sich ähnlich. Die praktizierende Katholikin richtete ihren Appell aber nicht nur an die Kirche, sondern auch an Träger weltlicher Einrichtungen wie etwa die Odenwaldschule, wo es in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls zahlreiche Missbrauchsfälle gab. "Überall dort, wo Missbrauch über längere Zeit systematisch vertuscht wurde, muss Aufklärung geschaffen werden, damit sich das nicht wiederholt." Eine symbolische Entschädigung "wäre ein angemessenes Angebot an die Opfer von damals", sagte Nahles gegenüber der "Süddeutschen Zeitung".

Die Grünen wollen sich nicht an einer Debatte über eine Verlängerung der Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch beteiligen, sagte die Chefin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, gegenüber der "Neuen Westfälischen" aus Bielefeld. "Diese Debatte lenkt von dem ab, was jetzt erstmal nötig ist: die Aufklärung dessen, was geschehen ist."

Runder Tisch am 23. April

Ein weiterer Schritt zur Aufklärung soll nun ein runder Tisch sein, der zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch gebildet werden soll. Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) lud ein breites Teilnehmerfeld zu einem ersten Treffen am 23. April ein. Schröder bat zusammen mit Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) zu dem Runden Tisch, an dem unter anderem Schul- und Internatsträger, die Katholische und Evangelische Kirche, Familienverbände und Vertreter von Ländern und Kommunen teilnehmen sollen. Das Gremium soll sich damit befassen, welche Art der Hilfe und Unterstützung Opfer benötigen. Zudem soll es Antworten darauf finden, was nach Übergriffen auf Kinder und Jugendliche zu tun ist und wie sich Missbrauch verhindern lässt. Nach erstem Zögern wird nun auch die katholische Kirche an dem Treffen teilnehmen.

Weitere Fälle im Ausland

Bruno Becker (Foto: Stiftskirche St. Peter)
Trat in Salzburg als Erzabt zurück: Benediktinermönch Bruno BeckerBild: Stiftskirche St. Peter

Auch im Ausland gibt es weitere Berichte über Missbrauchsfälle. So hat der österreichische Erzabt Bruno Becker seinen Rücktritt erklärt. Der Leiter des Benediktinerstifts St. Peter in Salzburg gab in einer Erklärung zu, dass es durch ihn vor mehr als 40 Jahren zu einer einmaligen sexuellen Handlung an einem damals Minderjährigen gekommen sei. Er habe sich danach bei dem Betroffenen entschuldigt und bedauere die Tat noch heute aufs Tiefste. Der Fall war im Herbst vergangenen Jahres nach der Wahl Beckers zum Erzabt ans Licht gekommen, als sich sein Opfer an die Kirche wandte.

Auch in den Niederlanden weitet sich ein Skandal um sexuellen Missbrauch von Kindern in Einrichtungen der katholischen Kirche aus. Neben etlichen Priestern werden jetzt erstmals auch Nonnen beschuldigt, sich an kleinen Jungen vergangen zu haben, berichtete die Zeitung "De Telegraaf" am Dienstag. Mehr als 200 mutmaßliche Opfer von sexuellem Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche der Niederlande haben bislang bei Behörden und Hilfsorganisationen entsprechende Beschwerden eingelegt. Die Aufdeckung sei auch durch den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche Deutschlands gefördert worden, hieß es in Medienberichten.

Autorin. Marion Linnenbrink (dpa, rtr, afp)
Redaktion: Annamaria Sigrist