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"Blindheit ist eine Chance"

5. März 2010

Sie hat eine Blindenschrift entwickelt, eine Blindenschule gegründet und hat mit blinden Kindern einen Berg des Himalayas bestiegen: Sabriye Tenberken öffnet vielen die Augen – obwohl auch sie selbst nichts sieht.

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Sabriye Tenberken und einer ihrer tibetischen Schüler (Foto: dpa)
Fühlend sehen: Tenberken und einer ihrer tibetischen SchülerBild: picture-alliance / dpa

Allein der Gedanke ist furchteinflößend: zu Fuß auf einen Giganten des Himalaya, auf 6400 Meter Höhe, über Geröllfelder, Gletscherspalten, schmale Trampelpfade, rutschige Eishänge – und das alles mit verbundenen Augen. Was nach dem jüngsten Rekordversuch risikofreudiger Extrembergsteiger klingt, war in Wahrheit schlicht der Versuch, Jugendlichen zu mehr Selbstvertrauen zu verhelfen. Die blinde Deutsche Sabriye Tenberken kletterte 2004 gemeinsam mit sechs blinden tibetischen Schülern den Lhakpa Ri hinauf – nur schlechte Witterungsverhältnisse verhinderten, dass die Gruppe den Gipfel in 7100 Metern Höhe erreichte.

Sabriye Tenberken neben Eiszapfen (Foto: dpa)
Im ewigen Eis des Himalaya: Sabriye TenberkenBild: blindsightthemovie

Von einem Scheitern der Expedition will Sabriye Tenberken nichts wissen: "Wir sind nicht gescheitert. Im Gegenteil: Es war eine gute Idee, denn die Kinder haben gelernt, sich auf schwierigem Untergrund zu bewegen und wie sie eine menschenfeindliche Welt erforschen können, zum Beispiel mit dem Hör-, Tast- oder Riechsinn." Allerdings brachte sie die Expedition auch selbst an ihre Grenzen: "Es war so anstrengend, dass man so etwas eigentlich nie wieder machen möchte", sagte Tenberken, deren Gruppe von einem Filmteam begleitet wurde.

Unterschätzung als Ansporn

Der dabei entstandene Dokumentarfilm "Himalaya - Der Gipfel des Glücks" von Lucy Walker spielte zahlreiche Preise ein und bescherte Tenberken einen beträchtlichen Medienrummel, der sie allerdings überhaupt nicht störte: "Das war gut, um unsere Botschaft zu verbreiten: Wir wollen Blinde in die Mitte der Gesellschaft bringen und die Angst vor Blindheit mindern. Sie ist sogar eine Chance."

Sabriye Tenberken am Mikrofon in der DW (Foto: DW)
Tenberken im Interview bei der Deutschen WelleBild: DW

Dies war auch stets ihr eigenes Motto: Tenberken, die seit ihrem zwölften Lebensjahr völlig blind ist, wollte etwas bewegen, Abenteuer erleben und Neues lernen. "Ich war schon als Kind rebellisch. Ich habe nicht eingesehen, warum mir Leute gesagt haben, was ich als Blinde tun kann und was nicht", sagt sie mit einer ebenso überzeugenden wie energischen Stimme, die keinen Zweifel daran lässt, was sie von Menschen hält, die Blinde unterschätzen. "Es ist frustrierend, wenn Menschen einen nicht ernst nehmen, nur weil ein Sinn nicht funktioniert. Das macht mich wütend, aber es treibt mich auch an."

Blinde Kinder werden zu Botschaftern in eigener Sache

Sie ging ihren eigenen Weg, studierte Tibetologie, Soziologie und Philosophie an der Universität Bonn und entwickelte eine tibetische Brailleschrift, die inzwischen offizielle Blindenschrift in Tibet ist. 2000 gründete sie gemeinsam mit dem Niederländer Paul Kronenberg eine Blindenschule in der tibetischen Stadt Lhasa in der sogar Berufsausbildungen absolviert werden können.

Tenberken mit dem Blindenführhund "Norbu" (Foto: dpa)
Guter Freund: Tenberken mit Blindenführhund NorbuBild: picture-alliance/dpa

Die Ausbildung blinder Menschen ist dort besonders wichtig, denn im religiösen Tibet gilt Blindheit als göttliche Strafe für Verfehlungen in einem vergangenen Leben. "Ich bin Eltern begegnet, die ihre Kinder nicht berühren wollten, da sie glaubten, diese seien von Dämonen besessen." Dank einer besseren Ausbildung werden die blinden Kinder zum Botschafter in eigener Sache und helfen, Vorurteile abzubauen, meint Tenberken. Nicht ohne Stolz erzählt sie, dass die blinden Kinder in Lhasa nun Dinge können, "von denen Sehende nur träumen – zum Beispiel lesen und schreiben im Dunkeln."

Autor: Joscha Weber

Redaktion: Oliver Samson