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Schlittern in der Hauptstadt

10. Februar 2010

Viele Berliner beginnen dieser Tage ihren Arbeitsweg mit einer unfreiwilligen Schlitterpartie und einem kräftigen Fluch auf den Lippen. Die Stadt hat vor dem Eis kapituliert - die Opfer liegen in den Krankenhäusern

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Fussgängerin auf Glatteis
Volle Konzentration auf die FüßeBild: picture alliance/dpa

Das Wort "Katastrophe" macht in Berlin die Runde. Diesmal ist aber nicht die S-Bahn gemeint, die wegen Materialproblemen seit Monaten nur noch nach Notfahrplan verkehrt. Nein, diesmal sind es die eisglatten Gehwege. Die deutsche Hauptstadt ist im Verlaufe des schneereichen Winters zu einer einzigen Rutschbahn geworden, die täglich ihre Opfer fordert. Hunderttausende stolpern und taumeln zu ihren Autos oder den S- und U-Bahnstationen.

Die Ärzte operieren im Akkord

Die Unfallärzte der hauptstädtischen Kliniken operieren im Akkord komplizierte Brüche, Patienten liegen in den Gängen und müssen stundenlang auf die Behandlung warten. Schlimme Kopfverletzungen nach Stürzen häufen sich.

Der Grund für den Ausnahmezustand: eine schmutzig-graue Schicht aus mehrfach überfrorenem und festgestampftem Schnee, durchsetzt mit mehrfach ausgestreutem Splitt, überzieht die Straßen und Plätze. Der mittlerweile betonharte Belag bezieht seine besondere Tücke aus den millionenfachen Fußabdrücken, in Schnee und Matsch getreten, als die noch weich waren. Inzwischen sind die Abdrücke zu extrem hartem Eis gefroren, zu regelrechten Fallen für empfindliche Knöchel und Gelenke. Der Einsatz von Tausalz auf Gehwegen ist in Berlin verboten.

Eisschollen schwimmen auf der teilweise zugefrorenen Spree am Reichstag in Berlin. (AP Photo/Michael Sohn)
Vereist ist im Regierungsviertel nicht nur die SpreeBild: AP

"Am Wochenende habe ich 24 Stunden im OP Narkose gemacht", berichtet der Anästhesist Hendrik Ganter vom Klinikum Benjamin Franklin. Auch in der Marzahner Unfallklinik werden am Tag rund rundert Patienten nach Stürzen eingeliefert, bei etwa der Hälfte sind Operationen nötig.

Wer sicher gehen will - fährt

Besser als die Fußgänger haben es die Autofahrer. Wer sicher gehen will, steigt auch für kurze Wege aufs Auto um. Denn die Hauptstrassen sind passabel geräumt - die Berliner Stadtreinigung hat mit 450 Fahrzeugen rund 25-tausend Tonnen Feuchtsalz gestreut und so dafür gesorgt, dass sich auf dem Asphalt kein Eispanzer bilden konnte. Das Tausalz sei computergesteuert und in umweltschonenden Mengen auf die Strassen gestreut worden, heißt es entschuldigend. Außerdem gelange das Schmelzwasser der Strassen später in die Kanalisation und versickere nicht im Boden.

Im Unterschied zu den Straßen ist auf den Berliner Gehwegen der Einsatz von Salz schon lange nicht mehr erlaubt, weil Grundwasser, Bäume und Hundepfoten darunter leiden. In Städten wie München und Hamburg gilt ähnliches. Standhaft lehnt die Berliner Umweltsenatorin bisher eine zeitweilige Lockerung des Verbots ab, obwohl Behinderten- und Altenverbände den Salz-Einsatz fordern und die "Bild-Zeitung" anklagend über eine Rentnerin berichtet, die seit 40 Tagen ihre Wohnung nicht verlassen konnte.

Festtrampeln statt Räumen

Es hätte nicht soweit kommen müssen, wären Gehwege mit Schaufel, Besen und notfalls mit Hacke von Anfang an gründlich geräumt worden. Doch im Unterschied zu Hamburg beispielsweise ist in Berlin seit dem harten Winter von 1978/79 die Vorschrift aufgehoben worden, den Schnee soweit zu räumen, dass das Pflaster wieder zum Vorschein kommt. Die Hamburger müssen Eis notfalls auch weghacken - nicht so die Berliner. Niemand muss sich wundern, dass die Hausverwalter oder die beauftragten Firmen Mühen und Kosten lieber scheuen und über den festgetrampelten Neuschnee immer wieder Sand oder Splitt streuen - wenigstens solange die Vorräte reichten. Denn viele Räum-Firmen hatten - schließlich hört man ja so viel vom Klimawandel - wieder einmal mit einem milden Winter gerechnet und ihre Arbeitskräfte und Materialvorräte zu knapp kalkuliert. Zwar sind die Mitarbeiter der Ordnungsämter unterwegs, um die zuständigen Eigentümer und schludrigen Firmen zu ermitteln, doch Strafbescheide machen das Eis nicht stumpfer.

Viele Berliner sind davon überzeugt, dass die Situation in ihrer Stadt besonders schlimm ist, und fordern vom Senat, schleunigst mehr Personal einzusetzen, um notfalls mit Manneskraft und Spitzhacke den Eispanzer zu knacken. Bislang verhallen die Forderungen ungehört.

Mit schwerem Gerät wird die Schnee- und Eisdecke auf dem Gehweg vor dem Friedrichstadtpalast in Berlin entfernt.
Später EinsatzBild: picture alliance/dpa

Rufe nach der Bundeswehr

Selbst ein bekennender Linker wie der Intendant des "Berliner Ensembles", Claus Peymann, bringt mittlerweile die Verpflichtung von Hartz-IV-Empfängern zum Eishacken ins Gespräch, und dazu noch das Anrücken der Bundeswehr. Schließlich sei Notstand: "Hier wanken jeden Abend 770 Besucher durch die Eiswüste zu meinem Theater, ständig fällt jemand hin", beschwerte sich der Theatermacher in der Berliner Fernsehsendung "Abendschau". "Diese Stadt ist an der Kippe, dass sie nicht mehr funktioniert."

Wer also derzeit den Fehler begeht, sich vom Berliner Hauptbahnhof zu Fuß in den Reichstag, die Bundestagsbüros oder diverse Ministerien zu begeben, könnte daran zweifeln, in der Hauptstadt einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt unterwegs zu sein. Selbst das Regierungsviertel ist von huckeligen Eispisten durchzogen, die oft nicht einmal gestreut sind.

Autor: Bernd Gräßler
Redaktion: Hartmut Lüning