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Die meisten Migranten sind deutsche Staatsbürger

25. Januar 2010

Lange Zeit war man in Deutschland entweder Deutscher oder Ausländer. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Andreas Wüst erklärt die Hintergründe und eröffnet so die neue Reihe "Deutschland-Zoom 2010".

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Porträt Andreas Wüst (Grafik: DW)
Andreas WüstBild: DW

Durch die jährliche Mini-Volkszählung, den sogenannten Mikrozensus, wissen wir: Von den knapp 82 Millionen Einwohnern Deutschlands haben 15 Millionen einen Migrationshintergrund. Mehr als die Hälfte von ihnen, das sind rund acht Millionen, besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Diese Neubürger wiederum setzen sich etwa zur Hälfte aus Aussiedlern und Spätaussiedlern sowie ihren Nachkommen zusammen. Die andere Hälfte besteht aus Personen, die selbst oder deren Eltern als Ausländer nach Deutschland gekommen sind.

Infografik Deutsche mit Migrationshintergrund (Quelle: DW mit Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)
Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Der größte Teil der Einwohner Deutschlands mit Migrationshintergrund besteht also nicht mehr aus Ausländern, sondern besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft! Es ist an der Zeit, ein altes Schwarz-Weiß-Bild ad acta zu legen. Es hat eine lange Vorgeschichte.

Es gehört zu den Mythen der alten Bundesrepublik, dass es einerseits Deutsche und andererseits Ausländer gibt. Die Entstehung dieses Schwarz-Weiß-Bildes hat viel mit dem vorherrschenden nationalen Selbstverständnis Deutschlands seit Ende des 19. Jahrhunderts zu tun: Die Abstammung von Deutschen wurde damals zum zentralen Kriterium. Wenn die eigenen Eltern nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, war man Ausländer.

Diese Vorstellung einer Volksgemeinschaft trug dazu bei, dass im Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen in den Krieg zogen, sich aufopferten, töteten und häufig selbst den Tod fanden.

In der Nachkriegszeit spendete die Idee einer deutschen Schicksalsgemeinschaft allerdings Trost. Denn zum einen hatten die Deutschen viel verloren und zum anderen wollten die Nachbarländer mit dem einst aggressiven Deutschland erst einmal nichts zu tun haben. Dies verfestigte zwischen Hamburg, Köln und München das Schwarz-Weiß-Bild vom Deutschen und dem Ausländer.

Dann kamen die Gastarbeiter

In den 1950er-Jahren begann in Deutschland ein langjähriger Wirtschaftboom. Nun fehlten aufgrund der Millionen Kriegsgefallenen vor allem männliche Arbeitskräfte. Deshalb begann die Bundesanstalt für Arbeit, ausländische Arbeitskräfte zu rekrutieren - zunächst in Italien, später auch in der Türkei.

Eigentlich war ein ständiger Austausch der ausländischen Arbeitnehmer geplant. Doch für die deutschen Unternehmen war es praktischer, dass die Gastarbeiter dauerhaft in Deutschland blieben. Partner und Familienangehörige zogen nach. So entstand eine "Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland", wie der Migrationsforscher Klaus Bade die Situation beschrieb. Sowohl bei den Deutschen als auch unter den Ausländern blieb die Illusion einer Rückkehr der Arbeitsmigranten in ihre Herkunftsländer erhalten. So lebten in Deutschland Migranten, die man zwar brauchte, aber erst einmal nicht in die Gesellschaft integrieren wollte.

Zwei Klassen von Migranten

In den 1970er und in größerem Umfang ab Ende der 1980er-Jahre kamen viele deutschstämmige Migranten aus Rumänien, Polen und der Sowjetunion nach Westdeutschland. Aufgrund ihrer Abstammung nahm die deutsche Gesellschaft sie als vollwertige Bürger auf und unterstützte die Integration durch Deutschkurse und günstige Kredite. Folglich entstanden unter den Migranten zwei Klassen: Einerseits ausländische Inländer, die selbst oder deren Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren. Andererseits Aussiedler oder Spätaussiedler, die als privilegierte Migranten teilweise sogar besser als die Einheimischen behandelt wurden.

Erst die 1990er-Jahre brachten eine grundlegende Veränderung des nationalen Selbstverständnisses. Viele Faktoren trugen zu diesem Wandel bei - unter anderem die Deutsche Einheit, offene Gewalt gegen Ausländer und viele zugezogene Russlanddeutsche mit Integrationsproblemen. Von nun an wurden wichtige migrationspolitische Maßnahmen getroffen: der erschwerte Zuzug für Spätaussiedler und Asylbewerber, eine erleichterte Einbürgerung von Ausländern und schließlich die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 1999.

Das Schwarz-Weiß-Bild wurde um Grautöne ergänzt und der so genannte Migrationshintergrund, also der Zuzug einer Person oder eines Elternteils, als wichtiges Unterscheidungsmerkmal für die Einwohner Deutschland eingeführt - Abstammung hin oder her.

Reihe Deutschland Zoom 2010 Autor Andreas Wüst

Dr. Andreas Wüst, geboren 1969, ist Politikwissenschaftler am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Sein Forschungsschwerpunkt ist u.a. das Thema Migranten und deren politische Integration. Er wohnt in der Nähe von Heidelberg.