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Erster Internet-Terrorist

16. Dezember 2009

Nicolás Castro veröffentlichte Morddrohungen gegen den Sohn des kolumbianischen Präsidenten in Facebook. Nun drohen dem Studenten bis zu zwölf Jahre Haft. Eine Rechtsverdrehung? Der Fall ist zum Politikum geworden.

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Demonstranten (Foto: dw)
Mehr als 30.000 Menschen haben sich im Internet schon mit Nicolás solidarisiertBild: DW/ Anne Herrberg

"Freiheit für Nicolás, der Terrorist ist ein anderer!" - rufen etwa 100 Studenten, die über die Septima, Bogotás Hauptverkehrsader ziehen. Sie tragen Transparente, verteilen Flyer mit dem Gesicht eines 23-jährigen, der in den letzten Wochen vom einfachen Studenten zum Politikum in Kolumbien geworden ist.

Am 6.Juli hatte Nicolás Castro, ein bis dahin unbekannter und laut seinen Professoren brillanter Student, in der Internetplattform Facebook eine Gruppe ins Leben gerufen: "Ich verpflichte mich Jerónimo Uribe, den Sohn Álvaro Uribes, zu töten", war da einige Wochen lang zu lesen gewesen. Der Sohn des Präsidenten steht schon seit langem in der Kritik, in Vetternwirtschaft, Korruption und illegale Geldgeschäfte verwickelt zu sein.

Friedliche Morddrohungen?

Nicolás (Foto: dw)
Der 23-jährige Kunststudent Nicolás ist zum Politikum gewordenBild: Amigos de la Libertad de Nicolás

"Uribe ist der Terrorist, Nicolás ein Künstler", rufen jetzt die Studenten. Ihrer Meinung nach mache der Fall Nicolás nur deutlich, wie sehr der kolumbianische Staat Andersdenkende oder die Opposition verfolge. "Der Staat hat hier sowohl die öffentliche Meinung als auch die Justiz manipuliert", meint Carlos. Diego, der gerade eine Abschlussarbeit gemeinsam mit Nicolás angefangen hat, erklärt: "Nicolás ist ein friedlicher Mensch, ein Vegetarier, der sich immer gegen Gewalt, für Dialog ausgesprochen hat."

Doch in der Facebookgruppe klang das anders: "Möge die Familie Uribe den Terror, den sie säht, am eigenen Körper spüren", stand da. Und am Schluss: "Wenn wir Jeronimo getötet habe, fehlt uns nur noch der Vater dieses elendigen Ausbeuters".

FBI eingeschaltet

Präsident Uribe (Foto: dw)
Kolumbiens Präsident Uribe geht mit harter Hand gegen Gegner vorBild: AP

Die Medien wurden aufmerksam, Nicolás löschte nach wenigen Tagen den Account, doch die Staatssicherheit war schon tätig geworden. Das US-amerikanische FBI wurde eingeschaltet, Facebook gab die Erkennungsnummer von Nicolás Computer, seine sogenannte IP-Adresse heraus, und die Staatsanwaltschaft scannte seine Festplatte. Am 3. Dezember wurde der 23-Jährige in Handschellen abgeführt und vorerst ins Gefängnis La Picota gesteckt - ein Ort für Schwerverbrecher.

"Ich hoffe, sie verurteilen ihn, damit er seine Lektion lernt. Das ist ein klarer Fall von Terrorismus, weil er noch mehr Gewalt in diesem Land säht" sagt ein Passant, der skeptisch auf die demonstrierenden Studenten blickt.

Nicolás sei Mitglied von Netzwerken, die weltweit zum Terrorismus aufrufen, erklärte auch General Luis Gilbter Ramirez von der Generaldirektion der Kriminalpolizei. Angeblich sollen sich drei FARC-Mitglieder Nicolás Gruppe angeschlossen haben, der Student selbst akribisch Informationen über die Präsidentenfamilie gesammelt haben.

Wollte Nicolás wirklich töten?

Der zuständige Richter untersucht nun, inwieweit der Fall Nicolás als sogenannter "Aufruf oder Aufstachelung zu einer Straftat" gelten kann. General Ramirez von der Kriminalpolizei hat sein Urteil dagegen schon gefällt: Nicolás Veröffentlichung sei "kein Witz, sondern eine Straftat, auf die laut Strafgesetzbuch zwischen sechs und zwölf Jahre Gefängnis steht." In den Medien wird Nicolás zu Kolumbiens erstem "Internet-Terroristen" gestempelt.

Völlige Überreaktion

Das sei eine völlig Verdrehung der Tatsachen, sagt dagegen Strafrechtsexperte Orlando Yañez. Das Aufrufen zu einer Straftat werde durch Artikel 483 des Código Penal, dem kolumbianischen Strafgesetzbuch, nur mit einer Geldstrafe belegt. Nur wenn daraufhin ein schweres Verbrechen begangen würde, könnte eine Gefängnisstrafe folgen. In jedem Fall müsse aber das Profil des Angeklagten untersucht werden, ob er vorbestraft ist, ob er selbst maßgeblich beteiligt gewesen sei. "Und davon kann hier keine Rede sein", sagt Orlando Yañez. "Der Junge braucht eher eine psychologische Beratung als eine Gefängnisstrafe." Sowohl Polizei wie Staatsanwaltschaft hätten völlig überreagiert.

Die Rechtslage ist ohnehin nicht klar. Nicolás ist Kolumbiens erster Fall von Internetkriminalität. Und Gesetze dafür existieren erst seit Februar dieses Jahres - und regeln eigentlich auch nur Fälle von Pornografie und Gewaltvideos. Für Alirio Uribe, Anwalt der Menschenrechtskanzlei "José Alvear Restrepo" steht fest: Der Fall hat mehr als nur eine juristische Dimension. "An diesem Jugendlichen soll ein Exempel statuiert werden, das sich einreiht in einen Besorgnis erregenden Prozess", sagt Uribe. "Jugendliche, die sich einmischen, werden als Kriminelle abgestempelt, als Feinde dieser Gesellschaft."

Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe (Foto: dw)
Menschenrechtsanwalt Alirio UribeBild: DW/ Anne Herrberg

Keine Gleichheit vor dem Gesetz


Nicolás Aufruf zur Gewalt sei ein radikaler Akt, der nicht zu entschuldigen sei und habe nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun, fügt Menschenrechtler Uribe hinzu. Doch man müsse den Kontext beachten: Todesdrohungen gehörten in Kolumbien zum Alltag, so der Menschenrechtler. "Im Internet, in Facebook existieren zahlreiche Gruppen, in denen Politiker, Menschenrechtler oder Journalisten, die sich kritisch gegenüber der Politik des Präsidenten Uribe äußern, mit dem Tode bedroht werden." Wie beispielsweise der Journalist Daniel Coronell, der die Söhne Uribes der Vetternwirtschaft und illegalen Bereichung beschuldigt hatte: Danach erhielt er Drohungen, die von einem Computer abgeschickt wurden, auf den nur enge Vertraute des Präsidenten und dessen Söhne zugriff hatten. Genauso wie all die anderen Fälle wurde auf dieser niemals von der Staatsanwaltschaft verfolgt.

Schwere Doppel-Moral

Demonstrantinnen (Foto: dw)
Die Studenten gehen für Nicolás auf die StrasseBild: DW/ Anne Herrberg

"Ich verurteile jeden Aufruf zur Gewalt", sagt auch der Journalist Hollman Morris. Doch die Doppelmoral der Regierung Uribe sei "haarsträubend". Im Fall Nicolas wurde innerhalb kürzester Zeit ein immenser Apparat in Bewegung gesetzt, eine enorme Medienkampagne gestartet. "Die Botschaft ist klar: Guckt, was dem passiert, der sich mit mir anlegt." Morris selbst wurde von Präsident Uribe persönlich öffentlich als Kollaborateur des Terrorismus bezeichnet. Teil einer "systematischen Praxis", sagt Morris. "Denn Uribe weiß genau, dass seine Äußerungen auf offene Ohren treffen und zu einer wahrhaften Bedrohungen für unser Leben werden."


Morris erhielt kurz nach Uribes Stellungnahme einen Grabeskranz zugeschickt, mit seinem Namen und denen seiner Familie. Urheber so vermutet er, sind paramilitärische Gruppen, deren enge Beziehung zur Regierung schon lange kein Geheimnis mehr ist.

Nicolás Castro hatte seine Facebook-Gruppe unter dem Namen "Der Rabe von El Salado" veröffentlicht. In El Salado verübten Paramilitärs im Jahr 2000 ein grausames Massaker - die Verantwortlichen wurden im von Präsident Uribe initiierten Prozess für Gerechtigkeit und Frieden an die USA ausgeliefert, wo sie ausschließlich wegen Drogenhandels belangt wurden.


Chance für Dialog?

Für Gloria Restrepo, eine der Professorinnen von Nicolás an der Universität Jorge Tadeo Lozano, macht der Fall vor allem deutlich, "welches Ausmaß die Wut, aber auch die Ohnmacht der Jugendlichen" gefunden habe. Eine Ohnmacht gegenüber der Realität, die in diesen Land herrsche: Gewalt, Korruption, Straflosigkeit. Die Form, die Nicolas gewählt habe, um das auszudrücken, sei zu verurteilen und unverantwortlich. Aber es sei genau dieser Gewaltdiskurs, der in Kolumbien zum Alltag geworden ist. Die wichtigste Konsequenz aus dem Fall Nicolas sollte ihrer Meinung nach sein: "Eine Diskussion anzustoßen. Eine Diskussion, die aufhört, die Augen davor zu verschließen, was in unserer Gesellschaft passiert."

Autorin: Anne Herrberg

Redaktion: Anna Kuhn-Osius