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"Russland ist an der Schwelle zur totalitären Gesellschaft"

5. November 2009

In Moskau hat die Polizei erneut eine Demonstration von Kremlgegnern mit Gewalt beendet. Der Führer der Vereinigten Bürgerfront, Garri Kasparow, berichtet im DW-Interview über die Lage der Opposition in Russland.

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Garri KasparowBild: AP

Deutsche Welle: Wie ist das Verhältnis zwischen der russischen Opposition und der Staatsmacht?

Garri Kasparow: Wir müssen erst einmal den Begriff Opposition definieren und die sogenannte System-Opposition davon ausschließen, also die Parteien, die in der Staatsduma vertreten sind, und überhaupt alle Parteien, die vom Kreml zugelassen wurden. Sie alle sind gezwungen, aufgrund der politischen Lage in Russland nach den Regeln des Kreml zu spielen. Es ist klar, dass sie nur so weit Opposition sein können, wie es der von der Staatsmacht festgelegte Rahmen erlaubt. In einer autoritären Gesellschaft kann jede Form der Kommunikation mit der Staatsmacht sehr gefährlich sein. Denn es ist klar, dass die Führung wenig geneigt ist, Kompromisse einzugehen. Wenn wir von Zusammenarbeit mit der Staatsmacht sprechen, dann ist es in diesem Fall lediglich der Versuch, sich einem Wunschdenken hinzugeben. Die aktuelle Diskussion über die Bildung einer Medwedjew-Mehrheit ist einfach der Versuch gewisser Vertreter sowohl aus der systemischen als auch außersystemischen Opposition, sich an dem schwelenden Clan-Konflikt im Kreml zu beteiligen. All dies steht in keinem Verhältnis zu den Zielen, die von der radikalen Opposition verkündet werden: die Wiederherstellung normaler demokratischer Verfahren und Rechtsstaatlichkeit sowie die Durchführung von Wahlen und die Abschaffung der Zensur.

Was halten Sie von Medwedjews Erklärungen über Modernisierung, die er in jüngster Zeit über Presse und Blogs verbreitet?

Es ist seltsam, laut darüber nachzudenken, ob es Sinn macht, die Ideen zu unterstützen, die Medwedjew äußert. Medwedjew ist kein Publizist und kein Blogger, er ist der Präsident des Landes. Man sollte auf Taten und nicht auf wiederholte Aufrufe reagieren, um so mehr, als dass sie in keiner Weise mit der realen Situation übereinstimmen. Objektiv hat sich die rechtliche Lage, was demokratische Verfahren in Russland angeht, unter Medwedjew sogar noch verschlechtert. Russland sackt immer tiefer im Sumpf des Autoritarismus ab. In einigen Punkten befinden wir uns bereits an der Schwelle zu einer totalitären Gesellschaft. Die einzige Bedingung für einen Dialog, die heute von der Opposition gestellt werden kann, ist die Freilassung politischer Gefangener. In Russland gibt es viele politische Gefangene – Yukos-Vertreter, Nationalbolschewisten, Wissenschaftler und viele gesellschaftliche Aktivisten. Geklärt werden muss die weiter anhaltende und wachsende Welle politischer Morde. Es ist offensichtlich, dass die jüngsten Morde an Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Oppositionellen politischer Natur sind. Vielleicht würde sich dann die Lage im Lande ändern. Aber vorerst beobachten wir nur einen sehr negativen Trend. Daher bringen die Aufrufe aus der außersystemischen Opposition, mit der Staatsmacht zusammenzuarbeitet, unsere Anhänger nur durcheinander, weil sie ein absolut falsches Bild von der ziemlich unerfreulichen derzeitigen Wirklichkeit malen.

Wie bewerten Sie die letzten Regionalwahlen in Russland? Was sagt Ihrer Meinung nach das Ergebnis aus?

Ich bitte darum, sehr vorsichtig mit dem Begriff Wahlen umzugehen. Es ist doch klar, dass dies alles nur formalen Charakter hat. Früher missbrauchte die Staatsmacht bei Wahlen die administrativen Ressourcen und organisierte verschiedene sogenannte Karusselle mit Mehrfachabstimmungen und anderen Fälschungen. Während der jüngsten Farce in Moskau war alles viel einfacher. Die Ergebnisprotokolle wurden von Kopien einfach abgeschrieben. Niemanden kümmerten noch irgendwelche Regeln des Anstands. Die Staatsmacht machte damit deutlich, dass all dies der Vergangenheit angehört.

Autor: Wladimir Sergejew / Markian Ostaptschuk
Redaktion: Birgit Görtz