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Das verschwiegene Buch

4. November 2009

Verrissen, verboten, verstummt? DW-Autorin Nadine Wójcik porträtiert fünf Künstler, die den Kampf mit der DDR-Zensur aufgenommen - und auf ihre persönliche Art gewonnen haben. Folge 3: die Schriftstellerin Sylvia Kabus.

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Die Schriftstellerin Sylvia Kabus (Foto: privat)

"Wir haben so still gelebt, und doch scheint es,

als wäre alles eine einzige große Ausschweifung gewesen."

Sylvia Kabus fühlt sich verloren, als sie mit 18 aus dem überschaubaren Görlitz nach Ost-Berlin zieht. Hier spürt die junge Studentin die engen Grenzen der DDR stärker als jemals zuvor, buchstäblich mit jedem Spaziergang auf der Allee "Unter den Linden" und mit dessen abruptem Ende am Brandenburger Tor, an der Mauer.

Eigentlich wäre sie gerne Dolmetscherin geworden, doch ohne Parteibuch war der Zugang zu diesem Studiengang verwehrt. Sie schreibt sich für Germanistik und Anglistik auf Lehramt ein und wird zugelassen. "Gleich in der ersten Vorlesung wurde uns vorgehalten, dass wir die Sprache eines Klassenfeindes studieren und man uns daher besonders im Auge behalten würde", sagt Sylvia Kabus heute.

Als Lehrerin der Ideologie verpflichtet

Viele Studierende sind von dieser forschen Begrüßung derart erschrocken, dass sie erstmal wieder nach Hause fahren. "Es drückte gleich vom ersten Tag an. Es drückte auf der Seele." Sylvia Kabus liebt dennoch ihr Studium – zumindest was die reine Sprachwissenschaft angeht. Doch im Fach Pädagogik lässt sich der ideologische Druck des Lehrplans nicht ausblenden. In Vorlesungen hören die Studierenden, dass sie als zukünftige Lehrer den Staatszielen verpflichtet seien und Schüler zum Hass gegen den Klassenfeind erziehen müssten. Niemanden wolle sie zum Hass erziehen, gegen wen auch immer, bricht es in einer Vorlesung aus ihr heraus.

Dennoch beendet Sylvia Kabus ihr Studium, beantragt aber beim Staatsrat, aus dem Schuldienst freigestellt zu werden. Ihrem Antrag wird zu ihrer eigenen Überraschung stattgegeben. Bereits einige Tage später findet sie eine Stelle als Redakteurin bei der Zeitschrift "Kultur und Freizeit" in Leipzig.

"Für Rica war das Gespräch vor ihrem Arbeitsantritt nur Zuhören gewesen. Eine diffuse Unschlüssigkeit. Er drang damals darauf, dass es eine politische Arbeit sei, ob sie sich das überlegt habe. Es klang drohend."

Sylvia Kabus (Foto: privat)
Sylvia Kabus mit ihrem Sohn, 1979 in Leipzig

Ringen mit der Zensur

Als Redakteurin soll sie vor allem eingereichte Manuskripte redigieren, nicht selten belanglose Funktionärsreden. Sie ringt um Worte, um Sätze, doch am Ende ist die Ideologie immer stärker. "Die Arbeit machte depressiv", sagt Sylvia Kabus. "Jeden Tag etwas zu tun, was unter den eigenen Erwartungen lag - und dann auch noch doktrinär war."

"Die Arbeit habe nichts mehr mit ihr zu tun gehabt, sagt sie. Doch der Satz zersplittert sofort. Mit wem sonst? Jeden Tag über Jahre. Auch sonntagabends, wenn es sie zusammenkrümmte vor der Woche."

"Manche haben das offenbar bis zum Ende der DDR ausgehalten, aber ich hielt diesen inneren Konflikt nicht mehr aus." 1984 kündigt sie ihre Stelle als Redakteurin, ohne zu wissen, wie es weitergeht. Es geht weiter. Die DEFA, das staatliche Filmstudio der DDR, fragt sie als Drehbuchautorin an. Parallel dazu arbeitet sie als Altenpflegerin bei der Volkssolidarität, kümmert sie sich um alte, vergessene Menschen.

"Sie kommt zerschlagen an, unruhig. Steht im Flur. Wie am ersten Tag. Er wartet. Die Krücken bohren sich in das Linoleum. Er hat den Kopf gesenkt. Von unten, weiß, sein Blick."

"Warum sollte ich die Realität nicht aufschreiben dürfen?"

Mit der neuen Arbeit ist es für Sylvia Kabus nicht getan. Im Gegenteil: Der graue Alltag der DDR, die vergessenen, verwahrlosten Alten fordern sie heraus. Sie beginnt zu schreiben. Erst einmal sind es nur Tagebuch-Einträge, später erste literarische Skizzen, die sie letztendlich in einem Roman zusammenfasst. 1988 - ein Jahr vor dem Fall der Mauer - reicht sie das fertige Manuskript "Weißer als Schnee" im Aufbau-Verlag ein, dem größten Staatsverlag der DDR.

Trotz der ungeschönten Alltagsbeschreibungen hat sie zunächst keine Angst, ihren Roman einzureichen. "Ich war doch in der DDR aufgewachsen und betrachtete mich auf eine Art als ein Kind dieses Staates. Und ein Kind darf und muss mit einem Willkommen rechnen können. Das verlangte ich irgendwo im Inneren." Dazu kam das drängende Gefühl, ihren Frust, ihre Traurigkeit und teilweise auch Hoffnungslosigkeit öffentlich auszusprechen.

Eine Frau hängt in einem Hinterhof in Leipzig Wäsche auf eine Leine (Foto: transit/Harald Kirschner)
Tristesse in Leipzig 1981Bild: picture-alliance/ ZB

Vorladung zu einem Tribunal

Doch Sylvia Kabus' Roman ist alles andere als willkommen. Die Schriftstellerin wird zu einem scheinbaren Gespräch gebeten. Tatsächlich ist es ein Tribunal. Warum sei ihre Romanfigur so dünnhäutig und depressiv? Und wie komme sie dazu, alte Menschen, Genossen, so zu demütigen? Dabei geht es der Lektorin nicht wirklich darum, den Inhalt zu diskutieren. Das inszenierte Tribunal setzt auf Einschüchterung. "Ich kann mich noch an diesen sehr kahlen Raum im Verlagshaus erinnern. Und an die Lektorin, die unablässig, unruhig auf- und abstiefelte und mich niedermachte."

"'Ich frage mich, wie manche eigentlich in diesem Boden stehen, wie viel Gift sie aufnehmen können und immer weiter gedeihen.' - 'Na, nicht indem sie sich Gedanken machen', sagt Jenny und sieht nach unten. 'Solche wie wir ziehen immer sich selbst in Zweifel. Besser kannst du dich nicht behindern.'"

Dass es bei diesem vermeintlichen Gespräch nicht um literarische Kriterien geht, sondern darum, Kabus psychisch zu zerstören, kann die Schriftstellerin in diesem Moment nicht erkennen. Der vehemente Verriss ihres Manuskripts frisst sich ein, die Worte der Lektorin hallen in ihr nach, bis hin zur schriftstellerischen Selbstaufgabe. "Ich habe für sehr lange Zeit überhaupt nicht mehr an mich geglaubt. Aus heutiger Sicht ist das vielleicht erstaunlich, weil heute ein großes Selbstbewusstsein eher verbreitet ist, aber damals haben flächendeckend sehr viele Menschen schnell an sich gezweifelt. Diese Wirkung eines diktatorischen Systems kann man mit Worten nur schwer erklären."

"Ich weiß, dass ich alles kann. Aber ich hab das Gefühl, es hat nichts zu sagen, irgendetwas anderes entscheidet. Das geht bis ins Formen, dass du plötzlich nicht den Mut hast, genau das zu machen, was du vor dir siehst. Wegen irgendjemanden, den du nicht kennst. Nicht mal jemand. Etwas. Dabei hast du in dir, was du brauchst. Du stehst gleichzeitig vor und hinter dem Spiegel."

Happyend für das verschwiegene Buch?

Sylvia Kabus beim Schriftstellerverband Leipzig (Foto: privat)
Auflösung des Schriftstellerverbandes in Leipzig

Doch es brodelt in der Gesellschaft der DDR und vor allem auch in ihrem Freundeskreis, bestehend unter anderem aus Liedermachern, Malern, Frauenaktivistinnen und Bürgerrechtlern. Gemeinsam mit Tausenden von Leipzigern geht sie auf die Straße, zu den historischen Montagsdemonstrationen.

Sylvia Kabus gehört zu den aktivsten Bürgerrechtlern der Stadt, unter anderem als Mitglied des Runden Tisches. 1990 ist sie an der Auflösung des Schriftstellerverbandes der DDR beteiligt. Sylvia Kabus beginnt wieder zu schreiben und kann endlich auch publizieren. Für ihren Text "Brief und Siegel" über die Erstürmung und Versiegelung des Gebäudes der Staatssicherheit in Leipzig, an der sie beteiligt war, erhält sie den Joseph-Roth-Preis.

Einige Jahre später wird Sylvia Kabus Leiterin des Literaturbüros Leipzig. Auf einer der zahlreichen Lesungen lernt sie Ines Geipel kennen, Professorin für Verssprache und mit Joachim Walther Gründerin des "Archivs unterdrückter Literatur in der DDR". Ob Kabus vielleicht einen Text für ihre Sammlung hätte? "Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch kein Verhältnis zu diesem massakrierten Manuskript gefunden. Für mich war es eigentlich beerdigt, es war zwar noch da, aber für mich war es weit weit weg."

2004 zieht Sylvia Kabus nach München. Mit diesem räumlichen Abstand findet sie zurück zu ihrem Roman, liest ihn, wie sie sagt, auf eine Art zum ersten Mal. 2008 erscheint "Weißer als Schnee" in der Reihe "Die Verschwiegene Bibliothek" in der Edition Büchergilde - 20 Jahre nach der vehementen Zurückweisung durch den Aufbau-Verlag.


Literatur-Empfehlung:
Sylvia Kabus, Weißer als Schnee, Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2008.


Autorin: Nadine Wójcik
Redaktion: Ramón Garcia-Ziemsen